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In der Krausestraße 1 wohnte Martha Bertha Hindel mit ihrer Tochter Carmen-Lore.

Martha Hindel kam am 4. September 1896 als zweites Kind von insgesamt fünf Kindern des Arbeiters Karl Hindel und seiner Frau Charlotte, geb. Biallas, in Reecke-Niendorf (Lübeck-Moisling) zur Welt. Sie hatte einen älteren Bruder Franz und drei jüngere Schwestern namens Anni, Emma und Klara.

Vor der Geburt ihrer Tochter lebte Martha Hindel seit dem 4.11.1921 längere Zeit in Hamburg. Am 17.10.1925 brachte sie in Hamburg-Altona Carmen-Lore zur Welt. Der Name des Kindesvaters blieb unbekannt. Am 1.12.1925 zog Martha Hindel mit der kleinen Lore von Blankenese nach Lübeck in die Krausestraße 5 zu ihrer Schwester Emma Baudisch. Die Wohnverhältnisse waren sehr beengt, so dass weitere Umzüge innerhalb Lübecks erfolgten.

1931 zogen Mutter und Tochter zunächst in die Brüderstraße 4a, wo Martha Hindel als Wirtschafterin arbeitete. Lore wurde in dieser Zeit eingeschult. Bis 1937 waren beide in der Krausestraße 1 gemeldet, wo sie einen Raum, der als Wohn- und Schlafzimmer sowie Küche diente, bewohnten.

Martha Hindel mit ihrer Tochter Carmen-Lore [1]
Martha Hindel mit ihrer Tochter Carmen-Lore [1]

1930 wurde Martha Hindel Zeugin Jehovas und damit Mitglied der Internationalen Bibelforscher-Vereinigung (IBV), die am 24.06.1933 verboten wurde. Die Auflösung der IBV wurde am 13. September 1934 auf das ganze deutsche Reich ausgedehnt.

Am 7.10.1934 verließ die IBV-Zentrale ihr bisherige Anpassungslinie und forderte in einer Botschaft des Präsidenten Joseph Franklin Rutherford zu bewussten Ungehorsam auf. Gleichzeitig sendete er einen Brief an die Reichsregierung , in dem er sich zu dem Verbot äußerte und den Widerspruch zwischen den Gesetzen des Regimes und der Gottes aufzeigte. Er stellte unmissverständlich klar, dass die Zeugen Jehovas den Gesetzen Gottes verpflichtet sind. Es begann die Wiederaufnahme der Aktivitäten der Zeugen Jehovas in der Illegalität.

Am 08.12.1936 wurde Martha Hindel wegen Kolportage für die IBV von dem Hanseatischen Sondergericht Hamburg zu 5 Monaten Gefängnishaft verurteilt. In der Urteilsbegründung wird Martha Hindels Aussage gegenüber einer Zeugin wiedergegeben,

daß sie als ernste Bibelforscherin den deutschen Gruß verweigere, im übrigen aber nicht staatsfeindlich sei. (...) Sie fühle sich verpflichtet auf das Vorhaben Gottes aufmerksam machen zu müssen; das sei für sie Gottes Gebot; sie könne nicht ablassen, dies zu befolgen.

Des Weiteren lautet es in der Urteilsbegründung:

Die ernsten Bibelforscher befinden sich in einem Zwiespalt; sie glauben Gott mehr gehorchen zu müssen als der Obrigkeit auf Erden. Aus diesem tragischen Zwiespalt heraus verneinen sie den nationalsozialistischen Staat wie jeden Staat überhaupt. Der Amerikaner Rutherford gilt ihnen mehr als der Führer und Reichskanzler Adolf Hitler. Begriffe wie Kraft und sich wehren gegen den Feind sind ihnen fremd. Ihre aus dem alten Testament geschöpfte Lehre zeigt vollkommen judaisierende Tendenzen, völkische Gedanken werden verworfen. Ihr Verneinen des nationalsozialistischen Staates (…) hat zur Folge, daß die ernsten Bibelforscher sich zwangsläufig zu mehr oder minder gefährlichen Staatsfeinden entwickeln. Sie sind daher mit Recht verboten und energisch zu bekämpfen.

 

In der weiteren Urteilsbegründung gehen die Richter darauf ein, dass Martha Hindel abgesehen von ihrer Betätigung ein „untadeliger Mensch" sei. Die aus Sicht des Gerichtes milde Strafe von 5 Monaten solle die Angeklagte abschrecken, „die Lehren der ernsten Bibelforscher von neuem zu verbreiten." Sollte sie dies nicht tun, droht das Gericht Martha Hindel, ihr das Sorgerecht für ihre Tochter Carmen-Lore zu entziehen:

Wenn sie glaubt, dies mit ihrem Gewissen nicht vereinbaren zu können, muss sie an ihr Kind denken. Diesem muß sie das Opfer bringen; sie setzt sich sonst der Gefahr aus, daß ihr durch vormundschaftsgerichtliche Maßnahmen die Sorge für die Person ihres Kindes genommen wird.
(Hanseatisches Sondergericht 11 Js.Sond. 1472/36.-(38)Sond.Ger. 531/36)

Die Urteilsbegründung ist exemplarisch für die Haltung des nationalsozialistischen Staates gegenüber den Zeugen Jehovas. Das Regime unterstellte der IBV Umsturzabsichten im angeblich religiösen Gewand und sah in den Zeugen Jehovas Staatsfeinde.
Die Verweigerungshaltung der Zeugen Jehovas war mit Ursache für das Verbot der IBV. Neben der Verweigerung des deutschen Grußes, die Martha Hindel gegenüber einer Zeugin erklärte, gehörten dazu alle Angelegenheiten, die aus Sicht der Zeugen Jehovas nicht mit den biblischen Geboten zu vereinbaren waren, nämlich:

  • Wehrdienst
  • Beteiligung am Luftschutz
  • Wahlbeteiligung
  • Beitritt zu NS-Formationen
  • Eid auf den "Führer"
  • Nürnberger Gesetze

Auch macht die Urteilsbegründung deutlich, dass den Zeugen Jehovas durch den Staat große Gefahr drohte.
Die Drohung, Martha Hindel das Sorgerecht für ihre Tochter Lore zu entziehen, wurde vermutlich bereits während der Untersuchungshaft zumindest vorbereitet. Mehrfach wendet sich Martha Hindel schriftlich aus der Untersuchungshaft an das Vormundschaftsgericht. Auch ist aus der Untersuchungsakte zu erlesen, dass Martha Hindel sich an die früheren und danach an die neuen Pflegeeltern wandte. Wie die Enkelsöhne zu berichten wussten, war die Pflegefamilie, in der Lore letztendlich blieb, regimetreu.

Martha Hindel verbüßte ihre Strafe in der Lübeckischen Gefangenenanstalt-Lauerhof und wurde am 19.02.1937 entlassen.
Aufgrund der Beschuldigung einer in Untersuchungshaft einsitzenden Glaubensschwester wurde Martha Hindels Wohnung in der Krausestraße 1 ergebnislos nach Schriften der IBV durchsucht und die Beschuldigte zum 29.11.1937 in das Grenzkommissariat der Gestapo in Lübeck zur Vernehmung vorgeladen.
Martha Hindel machte zu ihrer eigenen Person und zu den gegen sie erhobenen Vorwürfe in ihrer Vernehmung u.a. folgende Angaben:

a) Zur Person:
Ich bin als Tochter des Arbeiters Karl Hindel und dessen Frau Charlotte, geb. Biallas, am 4.9.1896 zu Reeke - Niendorf geboren und ev. erzogen worden. Vom 6. bis 14. Lebensjahr besuchte ich eine 2klassige Volksschule und wurde aus der ersten Klasse entlassen. Nach der Beendigung meiner Schulzeit war ich als Hausangestellte tätig.
Während der Kriegszeit war ich als Pflegerin in Barmbek und nach dem Kriege im Lübecker Krankenhaus tätig. Anschliessend bis jetzt bin ich als Reinmachefrau tätig und erhalte einen Mietszuschuß vom Wohlfahrtsamt.
Einer politischen Partei habe ich bisher nicht angehört.

b) Zur Sache:
Seit dem Jahre 1930 bin ich Zeugin „Jehovas" und habe die Versammlungen regelmäßig besucht. 1930 oder 1931 bin ich von dem Glaubensbruder Thümmler getauft worden und habe auch kolportiert. Nach dem Verbot der IBV im Jahre 1933 habe ich mich wieder im Jahre 1936 betätigt, indem ich für die IBV kolportierte. Hierfür wurde ich von dem Hanseatischen-Sondergericht am 08.12.1936 zu 5 Monaten Gefängnis verurteilt. ....

(Vernehmungsprotokoll vom 29.11.1937, Geheime Staatspolizei – Staatspolizeistelle Kiel – Grenzpolizeikommissariat Lübeck, Abt. II B1, Tgb.Nr. 9014/37)

Martha Hindel gab weiter zu Protokoll, sich an den von den Zeugen Jehovas initiierten Flugblatt-Aktionen „Resolution" im Februar und „Offener Brief" im Juni 1937 beteiligt zu haben. In ihrer Vernehmung berichtete sie weiter von Treffen bei Hans Jürs im Weiten Lohberg, wo Bibelstunden gehalten und gemeinsam der „Wachturm" gelesen wurde.
Stolperstein für Hans Jürs: Informationen

Mit „Resolution“ betitelt war ein Aufruf, der im September 1936 auf dem IBV-Kongress in Luzern verfasst wurde und sich an den Papst, Adolf Hitler und andere Regierungsmitglieder richtete. Der Aufruf kündigte nicht nur allein den defensiven Widerstand der Bibelforscher an, sondern forderte alle Menschen auf, die Verfolgung ihrer Anhänger zu verweigern.
Das Flugblatt „Offener Brief“ ging wesentlich deutlicher auf die Verfolgung der Zeugen Jehovas durch das nationalsozialistische Regime ein. So zitierte der offene Brief eine vom Regime geforderte Verpflichtungserklärung, mit der sich die Zeugen Jehovas von ihrer Vereinigung lossagen sollten. Die Erklärung endete mit dem Gruß „Heil Hitler”, den die Zeugen Jehovas verweigerten.

Für das Leben in einer Bibelforschergruppe war die religiöse aber auch die soziale Komponente sehr wichtig. Glaubensgenossen unterstützten bedürftige IBV-Anhänger finanziell und materiell. Darüber hinaus zahlten Zeugen Jehovas je nach ihren finanziellen Möglichkeiten Gelder in einen von der IBV-Zentrale organisierten Fond, die sogenannte Gute Hoffnung, ein. Die eingezahlten Beträge dienten der Finanzierung der Verkündigung und der Unterstützung Not leidender Mitglieder. Mitgliedsbeiträge wurden nicht erhoben.
Martha Hindel verdiente in der Woche 10 Reichsmark. Eine Reichsmark spendete sie monatlich für die „Gute Hoffnung“.

Auf Martha Hindels Meldekarte im Stadtarchiv der Hansestadt Lübeck sind in den Jahren 1913 bis 1931 19 Umzüge verzeichnet. Von 1931 bis zu ihrer ersten Haftstrafe Ende 1936 wohnte sie kontinuierlich mit ihrer Tochter Carmen-Lore in der Krausestraße 1.
Vermutlich hat Martha Hindel sich in der Glaubensgemeinschaft geborgen gefühlt. Ihr Stand als allein erziehende Mutter dürfte nicht einfach gewesen sein. Sie arbeitete hart für den Unterhalt ihrer kleinen Familie. Aus den zahlreichen Briefen, die sie aus ihrer Haft an ihre Tochter, Glaubensbrüder und -schwestern und ihre Schwester Emma schreibt, wird deutlich, welche Bedeutung ihr Glauben für sie hatte. Ihre religiöse Überzeugung und ihre Tochter waren ihr wohl das Wichtigste in ihrem Leben.

Martha Hindel wurde wegen Verdunklungsgefahr festgenommen und kam am 01.12.1937 in die Frauenstrafanstalt Lübeck Lauerhof auf Marli in Untersuchungshaft.
Am 26.02.1938 wurde Martha Hindel durch das Schleswig-Holsteinische Sondergericht Kiel in Lübeck zu einem Jahr und sechs Monaten Haft verurteilt. Das Ende ihrer Haft sollte der 28.05.1939 sein.
Während ihrer Untersuchungshaft und nach der Urteilsverkündung wechselte ihr Gefängnisaufenthalt mehrmals zwischen Lübeck und Kiel.

Schreiben der Oberstaatsanwaltschaft Kiel [2]
Schreiben der Oberstaatsanwaltschaft Kiel [2]

In dem Annahmeersuchen der Oberstaatsanwaltschaft in Kiel an das Gefängnis Lübeck-Lauerhof vom 11. Februar 1938, Martha Hindel zur Untersuchungshaft anzunehmen, wird als Haftgrund „Verg.geg. das Heimtückegesetz“ (Vergehen gegen das Heimtückegesetz) genannt.
Das Heimtückegesetz ist die Kurzbezeichnung des nationalsozialistischen Ausnahmegesetzes „gegen heimtückische Angriffe auf Staat und Partei und zum Schutz der Uniformen“, das der Sicherung der nationalsozialistischen Herrschaft diente; seine unklaren und weitgefassten Tatbestände erlaubten den Behörden, die politische Opposition einzuschüchtern und zu unterdrücken. Kurzum, nach diesem Gesetz konnte jeder als Staatsfeind vor einem Sondergericht verurteilt werden.

Von März bis Mai 1938 wurde Martha Hindel von Kiel in die Strafanstalten Dreibergen-Bützow (heute Bundesland Mecklenburg-Vorpommern) gebracht. Mehrfach musste sie ihren Haftaufenthalt zwischen Dreibergen-Bützow und Rostock und Kiel wechseln. Teilweise fanden die Transporte nachts statt.

Zwei Transportbescheide [3][4]
Zwei Transportbescheide [3][4]

Jedes Mal musste sie das Prozedere bei der Aufnahme in ein anderes Gefängnis wie Erfassen und Abnahme ihrer Sachen und Geldes, Erfassen der Personalien, Befund ihrer körperlichen Verfassung, Körpergewicht und -größe, Verfassen ihres Lebenslaufes u.s.w. über sich ergehen lassen.

Über die Häftlinge wurden "Beobachtungsmeldungen" über ihr Verhalten in der Haft gemacht.

Ergänzt wurden diese Meldungen durch die "Äußerungen der übrigen Oberbeamten".

"Beobachtungsmeldung" [5]
"Beobachtungsmeldung" [5]
"Äußerungen der übrigen Oberbeamten" [6]
"Äußerungen der übrigen Oberbeamten" [6]
Anordnung der Schutzhaft durch die Geheime Staatspolizei [7]
Anordnung der Schutzhaft durch die Geheime Staatspolizei [7]

Am 28.05.1939 hatte Martha Hindel ihre Strafe verbüßt. Aber in Freiheit kam sie nie wieder.
Am 26.05.1939, zwei Tage vor Haftende, wies die Gestapo durch das Grenzkommissariat Lübeck die Gefängnisanstalt Dreibergen-Bützow schriftlich an, Martha Hindel nach Verbüßung ihrer Strafe bis auf Weiteres in Schutzhaft zu nehmen. Mit dem nächsten Sammeltransport solle sie nach Lübeck überführt werden.

Oft wurden Zeugen Jehovas, obwohl sie ihre Haftstrafe abgesessen hatten, in sogenannte Schutzhaft genommen. Reimer Möller führt in  den Informationen zur Schleswig-Holsteinischen Zeitgeschichte von AKENS 2008 in seinem Artikel “Schutzhaft” in der Innenstadt, Das Konzentrationslager Glückstadt, hierzu u.a. aus:

Die Landräte, inzwischen sämtlich NSDAP-Parteigänger, konnten “Schutzhaft” verhängen – eine sicherheitspolitische Repressionsmaßnahme, die eine zeitlich unbegrenzte Haft zuließ und keiner richterlichen Nachprüfung unterworfen war; die Betroffenen konnten also keine Rechtsmittel dagegen einlegen. Diese radikale Beschneidung persönlicher Freiheitsrechte – begründet in der “Verordnung zum Schutze des deutschen Volkes” vom 4. Februar – wurde durch die “Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutz von Volk und Staat” vom 28. Februar 1933 verschärft, die auch als “Reichstagsbrandverordnung” bekannt wurde. Im Lauf der nationalsozialistischen Herrschaft wurden die “Schutzhaft”-Maßnahmen durch Erlasse erweitert und erhielten als “Zwangsmaßnahme der Geheimen Staatspolizei” Anfang 1938 generalpräventiven Charakter.
(aus: Arbeitskreis zur Erforschung des Nationalsozialismus in Schleswig-Holstein e.V. (AKENS)(Hrsg.): “Siegeszug in der Nordmark”. Schleswig-Holstein und der Nationalsozialismus 1925 -1950. Informationen zur Schleswig-Holsteinischen Zeitgeschichte, Heft 50. S.98)

Umgehend wurde der Anweisung aus Lübeck nachgekommen und der Fahrplan für den sogenannten Sammeltransport erstellt und der Gestapo in Lübeck mitgeteilt.
Die Transportkosten waren laut Weisung des mecklenburgischen Staatsministerium für Abteilung Inneres an die Strafanstalten Dreibergen – Bützow der Gefangenen selbst abzuverlangen.

Überführung nach Lübeck [8]
Überführung nach Lübeck [8]
Reisekostenabrechnung [9]
Reisekostenabrechnung [9]

Am 20.07.1939 wird Martha Hindel in das Konzentrationslager Ravensbrück bei Fürstenberg in Mecklenburg eingeliefert. Aus den Dokumenten geht nicht hervor, wo ihr Haftaufenthalt nach ihrer Ankunft mit dem Sammeltransport von Altona nach Lübeck vom 08.06.1939 bis zum 20.07.1939 war.
Eine Vermutung ist, dass sie in der Zeit im Konzentrationslager Lichtenberg in Sachsen-Anhalt interniert war, da aus diesem KZ 1939 eine größere Gruppe von Zeuginnen Jehovas in das neu eröffnete Frauen-KZ Ravensbrück in Brandenburg kam.

Sie [die Gruppe] gehörte zu den ersten in Ravensbrück registrierten Frauenhäftlingen. Im Zellenbau waren im Winter 1939/40 mehr als 400 Zeuginnen inhaftiert, weil sie jede Form von Arbeit für den Krieg verweigerten.“ Die Zeugen Jehovas wurden auf ihrer Häftlingskleidung mit dem lila Winkel gekennzeichnet.
(Presseinformation Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten - Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück anlässlich der Ausstellung “Lila Winkel in Ravensbrück“, Oranienburg 21.02.2007)

Auch aus dem Konzentrationslager Ravensbrück versuchte Martha Hindel über Briefe und Postkarten den Kontakt zu ihrer Tochter, ihrer Schwester Emma und Zeugen Jehovas aufrecht zu halten. Die Korrespondenz unterlag der Zensur. Weiterhin wurde überprüft, ob sie ihrem Glauben abschwor. Martha Hindel schwor ihrem Glauben nicht ab.
An ihre Schwester Emma schrieb sie im Februar 1942. Auf der Rückseite der Karte wurde von der Verwaltung des KZ Ravensbrück per Vordruck mitgeteilt, dass ihr der weitere Briefwechsel verboten sei.

Karte an die Schwester [10]
Karte an die Schwester [10]
auf der Rückseite Schreibverbot des KZ Ravensbrück [11]
auf der Rückseite Schreibverbot des KZ Ravensbrück [11]

Martha Hindels Schwester leitete die Karte offenbar an ihre Nichte Lore weiter. Aus ihrem kurzen Anschreiben an das Mädchen ist zu entnehmen, dass die Tante längere Zeit nichts mehr von ihrer Nichte gehört hatte und den Kontakt zu ihr suchte.

Postkarte aus Ravensbrück im März 1942 [12]
Postkarte aus Ravensbrück im März 1942 [12]

Trotz des Verbotes schrieb Martha Hindel im März 1942 noch einmal an ihre Tochter, nachdem sie offensichtlich erfahren hatte, dass Lores Pflegeeltern nun ihre rechtskräftigen Eltern waren:

Liebe Lore! So, du hast jetzt Vater u. Mutter gefunden; nun weiß ich, daß du glücklich bist. Meinen Weg kennst du, folglich kann ich ihn jetzt ungehindert gehen. Um mich mach dir keine Sorge, der Vater sorgt für mich. (...)

Postkarte aus Auschwitz [13]
Postkarte aus Auschwitz [13]

Im gleichen Monat wurde Martha Hindel in das Konzentrationslager Auschwitz deportiert. Wieder nahm sie den Kontakt über Postkarten zumindest zu ihrer Schwester Emma auf. Deutlich wird aus ihren folgenden Zeilen, dass auch die eingehende Post zensiert wurde.
So schrieb sie am 28.06.1942:

Meine Lieben daheim! Was ist mit unserer Lorelei? Warum schreibt sie der Mutti denn nicht mehr ? Emma sieh dich doch mal nach ihr um. Du schreibst Klara + Ilse haben euch besucht; wie befinden sie sich denn? Es war ja wiederholt vom Deinem Brief etwas abgeschnitten, so daß ich von verschiedenen Nachrichten von Dir nichts erfahren habe . Es freut mich daß es euch soweit noch gut geht. Grüße bitte alle von mir. Ihr seid alle recht herzl. gegrüßt von Tante Martha und von Mutti.

Dieser Nachricht ist auch zu entnehmen, dass der Kontakt von der Tochter zu ihrer Mutter nicht mehr gegeben oder zumindest unterbrochen war. Die Situation von Carmen-Lore als mittlerweile 16jährige Jugendliche dürfte mit Sicherheit nicht leicht gewesen sein. Sie wuchs in einer regimetreuen Familie auf. Die Beziehung zu ihrer Mutter wurde durch die Trennung erschwert. Auf dem Weg zum Erwachsenwerden war ihre Mutter nicht da. Vielleicht konnte die Heranwachsende nicht nachvollziehen, warum ihre Mutter ihrem Glauben nicht abschwor. Mag Carmen-Lore das Gefühl gehabt haben, dass ihre Mutter dem Glauben mehr Wichtigkeit beimaß als ihr. Sicherlich hatte sie keine genauen Vorstellungen von der lebensbedrohlichen Situation ihrer Mutter.

Am 24. März 1943 wurde Martha Hindel in Auschwitz ermordet.
Ihrer Schwester Emma Baudisch wurde die Todesnachricht in die Schützenstraße 31 gesendet.

Todesnachricht aus Auschwitz [14]
Todesnachricht aus Auschwitz [14]

Es ist möglich, dass Frau Baudisch zunächst dem Inhalt dieser Nachricht glaubte. Spätestens nach Kenntnis über die Lagerbedingungen und der Vernichtungsmaschinerie in Auschwitz dürfte sie gewusst haben, dass ihre Schwester keineswegs eines natürlichen Todes gestorben war.

Martha Hindels Tochter Carmen-Lore lebt in Lübeck. Sie sammelte die Dokumente ihrer Mutter und übergab sie ihren Söhnen, die diese dankenswerterweise der Initiative Stolpersteine für Lübeck zur Verfügung stellten. Der Verlegung eines Stolpersteines zum Gedenken ihrer Mutter und Großmutter stimmten die Angehörigen zu.
Die Enkelsöhne hatten bereits zuvor selbst den Leidensweg ihrer Großmutter verfolgt und Kontakte zu Archiven aufgenommen.

Herr Falk Bersch, Regionalforscher aus Wismar, dem ich an dieser Stelle herzlich danken möchte, stellte den Kontakt zwischen Martha Hindels Enkelsöhnen und mir her. Er übermittelte mir umfangreiche und wertvolle Materialien, die die Grundlage für die Veröffentlichungen über die Lübecker Zeugen Jehovas, zu deren Gedenken Stolpersteine verlegt wurden, auf dieser Website bilden.

Stolperstein für Hans Jürs: Informationen
Stolperstein für Heinrich van Loo: Informationen
Stolperstein für Heinrich Maaß: Informationen

Nach dem Kriege versuchte Carmen-Lores Ehemann jahrelang Wiedergutmachung für seine ermordete Schwiegermutter Martha Hindel zu erlangen. Die Bemühungen waren langwierig. Am 29. April 1958 wurde Carmen-Lore für den Verlust ihrer Mutter vom Landesentschädigungsamt Schleswig-Holstein eine Entschädigung in Höhe von 10.200,- DM zuerkannt.
Der Bescheid [15] kann in voller Länge hier als PDF-Datei eingesehen werden.

Bildnachweise

[1] Foto aus dem Familienbesitz
[2] bis [9] Landeshauptarchiv Schwerin
[10] bis [14] Dokumente aus dem Familienbesitz

Quellen

  • Arbeitskreis zur Erforschung des Nationalsozialismus in Schleswig-Holstein e.V. (AKENS)(Hrsg.): “Siegeszug in der Nordmark”. Schleswig-Holstein und der Nationalsozialismus 1925 -1950. Informationen zur Schleswig-Holsteinischen Zeitgeschichte, Heft 50
  • Archiv der Hansestadt Lübeck
  • Dokumente aus dem Familienbesitz der Enkel von Martha Hindel
  • Garbe, Detlef: Zwischen Widerstand und Martyrium. Die Zeugen Jehovas im „Dritten Reich“. Studien zur Zeitgeschichte; Bd. 42. R.Oldenbourg Verlag GmbH, München 1999
  • Hesse, Hans (Hrsg.): „Am mutigsten waren immer wieder die Zeugen Jehovas“. Verfolgung und Widerstand der Zeugen Jehovas im Nationalsozialismus. Edition Temmen Bremen 1998. 2. Aufl. 2000
  • Imberger, Elke: Widerstand „von unten“. Widerstand und Dissens aus den Reihen der Arbeiterbewegung und der Zeugen Jehovas in Lübeck und Schleswig-Holstein 1933-1945. Quellen und Forschungen zur Geschichte Schleswig-Holsteins, Bd.98 herausgegeben von der Gesellschaft für Schleswig-Holsteinische Gesellschaft. Karl Wachholtz Verlag Neumünster, 1991
  • Landeshauptarchiv Schwerin
  • Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück/Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten: www.ravensbrueck.de
  • Mitgutsch, Andreas und Schiffer, Jochen: Die Verfolgung der Zeugen Jehovas in Lübeck und Umgebung 1933-1945. Im Selbstverlag Lübeck 2000

Susanne Schledt-Önal, Februar 2012