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Die St. Annen-Straße 12 war das Zuhause der Familie Emmering.

Von 1919 an lebte der Händler Benjamin Emmering mit seiner Frau Sara und den drei Kindern Aron Adolf, Elena und Eva in seinem Haus in der St. Annen-Straße 12.

Benjamin und Sara Emmering mit ihren Töchtern Elena und Eva vor dem Geschäfts- und Wohnhaus St. Annen-Straße 12, Aufnahme etwa 1922/23. [1]
Benjamin und Sara Emmering mit ihren Töchtern Elena und Eva vor dem Geschäfts- und Wohnhaus St. Annen-Straße 12, Aufnahme etwa 1922/23. [1]
St. Annen-Straße 12 heute (vor Umbau der Eingangstür 2012) [2]
St. Annen-Straße 12 heute (vor Umbau der Eingangstür 2012) [2]

Benjamin Emmering war 1870 in Loppersum geboren, einem Ort im Nordosten der Provinz Groningen in Holland, wo er als das mittlere von sieben Kindern aufwuchs. Wie er die aus Moisling stammende Sara Goge kennenlernte, ist nicht bekannt, möglicherweise hatte ihn sein Beruf als Viehhändler nach Lübeck geführt. 1903 fand ihre Hochzeit in Lübeck statt. Sein jüngerer Bruder Simon (Jahrgang 1873) heiratete wenig später ebenfalls eine Lübeckerin. Mit der Heirat verloren beide Frauen die lübeckische Staatsbürgerschaft und galten wie ihre Ehemänner und später die Kinder als holländische Staatsangehörige.

Im Personenstandsregister der Israelitischen Gemeinde Lübeck ist über die Eheschließung von Bejamin Emmering und Sara Goge folgender Eintrag zu lesen:

Auszug aus dem Personenstandsregister der Israelitischen Gemeinde Lübeck [3]
Auszug aus dem Personenstandsregister der Israelitischen Gemeinde Lübeck [3]

                                           No. 235 = 129

Heute, Mittwoch den einundzwanzigsten Oktober Ein Tausend neun Hundert und drei ward von mir, dem unterzeichneten Rabbiner, hierselbst in Lübeck nach jüdischen Gesetzen getraut der Vieh-händler

                                        Benjamin Emmering

wohnhaft Godlenze, geboren am 21.August 1870 in Loppersum bei Groningen in Holland als Sohn des Aron Emmering und dessen Ehefrau Rebekka geborene Schryver, mit der Jungfrau

                                               Sara Goge,

wohnhaft hierselbst, geboren in Moisling am 25.April 1871, als Tochter des Schneiders Jacob Salomon Goge und dessen Ehefrau Eva geborene Holländer, nachdem die bürgerliche Trauung hierselbst am Tage zuvor unter No. 547 vollzogen worden war

                                                               gez. Dr. Carlebach, Rabbiner

Anzeige im Lübecker Generalanzeiger 1922 [4]
Anzeige im Lübecker Generalanzeiger 1922 [4]

Das junge Ehepaar lebte zunächst in Holland, einige Jahre in Bierum, dann op 't Zandt, wie es dort heißt. In Bierum kam am 25.8.1904 der Sohn Aron Adolf zur Welt, Elena wurde am 25.8.1906 in 't Zandt geboren, die jüngere Tochter Eva dann aber in Lübeck am 27.10.1909.



Seit Anfang 1909 hatte die Familie in Lübeck ihr Zuhause, zog anfangs mehrere Male um, bis sie 1919 das Haus in der St. Annen-Straße 12 erwerben und dort ihr An- und Verkaufs-Geschäft für Kleidung, Betten und Möbel eröffnen konnte.

Benjamin Emmerings Bruder Simon wohnte mit seiner Familie in unmittelbarer Nähe in der Schildstraße 5. Sara Emmerings Mutter Eva Goge, geb. Holländer, war bereits 1907 und ihre Schwester Bertha 1909 verstorben. Ihr Vater lebte schon seit vielen Jahren nicht mehr, und ihr einziger Bruder Marcus Goge wohnte mit seiner Familie in Hattingen. 

Elena, Eva und Aron Adolf wuchsen in Lübeck auf und gingen hier zur Schule. Eva war von Ostern 1916 bis 1922 Schülerin der St. Marien-Mädchenschule und besuchte anschließend die St. Jürgen-Mädchen-Mittelschule. Der Religionsunterricht fand in der Synagoge schräg gegenüber vom Elternhaus statt.
Aron Adolf absolvierte ebenfalls die Mittelschule und machte dann ab 1919 eine Ausbildung als Verkäufer in der Firma von Isaak Frankenthal. Auch Eva wurde Verkäuferin, während ihre ältere Schwester Elena vermutlich keine Berufsausbildung hatte, sondern im Haushalt arbeitete.

Todesanzeige im Lübecker Generalanzeiger vom 3.9.1932 [5]
Todesanzeige im Lübecker Generalanzeiger vom 3.9.1932 [5]

 

 

Am 2. September 1932 starb Benjamin Emmering im Alter von 62 Jahren, unerwartet, doch "nach langem schweren Herzleiden", wie es in der Todesanzeige der Familie im Lübecker Generalanzeiger heißt. Die mittlerweile erwachsenen Kinder lebten zu diesem Zeitpunkt nicht mehr im Elternhaus, doch nach dem Tod des Vaters kehrten beide Töchter aus Hattingen nach Lübeck zur Mutter zurück.

Sara Emmering muss zu diesem Zeitpunkt bereits an einer schweren psychischen Erkrankung gelitten haben. Die Aufnahme einer hohen Hypothek auf das Haus in der St.Annen-Straße 12 noch zu Lebzeiten Benjamin Emmerings weist darauf hin, dass ihre Behandlung viel Geld gekostet haben dürfte und ihre stationäre Unterbringung in der Heilanstalt Strecknitz erforderlich wurde. Das Haus wurde nach dem Tod von Benjamin Emmering vermietet, blieb jedoch im Besitz der Familie. 

Der Sohn Aron Adolf Emmering war seit 1930 verheiratet. Mit seiner Frau Franziska Rosa, geb. Blumenthal, die 1907 in Hamburg geboren war, und der am 8. Januar 1931 in Lübeck geborenen Tochter Ingrid wohnte er zunächst in der Beckergrube 74 und ab 1932 im Opens internal link in current windowEngelswisch 29. Seine holländische Staatsangehörigkeit erstreckte sich auch auf Frau und Tochter. 1930 hatte sich Aron Adolf Emmering mit einem eigenen Geschäft selbständig gemacht. Ein Gewerbeanmeldeschein vom 14.4.1930 weist ihn als "Händler für Lumpen, Knochen, Altpapier und Alteisen" aus.
Später hatten seine Frau und er ein Geschäft für Herrenbekleidung in der Marlesgrube 13. Doch schon vom 13. Juni 1934 an durfte Aron Adolf Emmering nur noch Handelswaren von Tür zu Tür verkaufen.

Anfang August 1934 verließen Franziska, Aron Adolf und Ingrid Emmering Lübeck und flüchteten sich nach Holland. In Amsterdam fanden sie ein neues Zuhause.

Auch Elena und Eva Emmering flüchteten 1933 nach Holland, während ihre Mutter   in der Heilanstalt Strecknitz blieb. Am 9. Juni 1936 aber wurde Sara Emmering, die Lübeckerin, von den Behörden als „unerwünschte Ausländerin“ nach Holland abgeschoben. Ihr Haus in der St. Annen-Straße 12 kam durch eine Zwangsversteigerung in den Besitz der Hansestadt Lübeck. In Holland wurde Sara Emmering unter ihrem Mädchennamen Sara Goge in Het Apeldoornsche Bosch als Patientin aufgenommen, einer großen psychatrischen Einrichtung für jüdische Menschen in Apeldoorn, die seit 1909 bestand. 

Mit der Besetzung der Niederlande durch die Deutschen setzte für die Familie Emmering auch dort die Verfolgung ein. Die beiden Schwestern Elena und Eva wohnten 1941 zuletzt in Amsterdam in der Govert Flinckstraat 98. Sie wurden im Lager Westerbork interniert und von dort nach Auschwitz deportiert, wo Eva am 29.8.1942 und Elena am 30. 9.1942 ihr Leben verloren.

Auszüge aus dem Sterbebuch Auschwitz [6][7]
Auszüge aus dem Sterbebuch Auschwitz [6][7]

Nach den für Elena und Eva Emmering ausgestellten Totenscheinen waren beide im Stammlager Auschwitz. Der Name des für seine Versuche an Häftlingen berüchtigten Arztes Kremer lässt viele schlimme Vermutungen zu, was den beiden jungen Frauen angetan wurde. Sie waren 33 und 36 Jahre alt, als sie ermordet wurden.

In der Nacht vom 21. auf den 22.Januar 1943 wurde die psychatrische Klinik in Apeldoorn „geleert“, alle 1250 Patientinnen und Patienten, darunter auch Sara Goge, wurden unter Schlägen und Tritten auf Lastwagen verladen und dann in Viehwaggons in das Vernichtungslager Auschwitz transportiert. Sofort nach der Ankunft am 25.Januar 1943 wurden alle, die den Transport überlebt hatten, in den Gaskammern von Birkenau ermordet, so auch Sara Goge im Alter von 71 Jahren.

Aron Adolf Emmering wurde mit seiner Frau und Tochter nach Sobibor deportiert. Ingrid Emmering war 12 Jahre alt, als sie dort am 11.Juni 1943 mit ihrer Mutter ermordet wurde, der Vater war zwei Tage zuvor am 9.Juni 1943 umgebracht worden.

Von den weiteren Verwandten, die ebenfalls Opfer der Shoa wurden, sollen hier der Bruder Sara Goges und seine Frau genannt sein: Auch Markus Goge, 1875 in Lübeck geboren, Malli Goge-Bilstein, geboren 1876 in Soest und ihre Söhne Max (Jahrgang 1904) und Jacob wurden in Auschwitz ermordet. Für sie alle hat ihre Tochter Sofia Rozental, geb. Goge, Gedenkblätter in Yad Vashem ausgefüllt.

Vor dem Haus Opens internal link in current windowEngelswisch 29 erinnern drei Stolpersteine an Ingrid Emmering, ihre Mutter Franziska Emmering, geb. Blumenthal, und ihren Vater Aron Adolf Emmering.
In der Opens internal link in current windowSchildstraße 5 halten sechs kleine Gedenksteine die Erinnerung wach an Betty Emmering, geb. Lissauer, und ihre Familie.

Bildnachweise

[1] Institute of Concrete Matter, Haarlem, Niederlande (Dieses Bild wurde mit anderen Fotos und Dokumenten der Familie Emmering bei Renovierungsarbeiten in einem Haus in Amsterdam gefunden)
[2] Heidemarie Kugler-Weiemann
[3] Archiv der Hansestadt Lübeck, Personenstandsregister der Israelitischen Gemeinde, Band 2, Eheschließungen
[4] Lübecker Generalanzeiger 19.10.1922
[5] Lübecker Generalanzeiger 3.9.1932
[6]+[7] Archiv des Museums Auschwitz, Sterbebuch

 

Verzeichnis der Quellen außerhalb der Standardfachliteratur

  • Adressbücher und Melderegister der Hansestadt Lübeck
  • Archiv der Hansestadt Lübeck

    • Staatliche Polizeiverwaltung 8, 109, 110
    • Hauptbuch der St. Marien-Mädchenschule
    • Personenstandsregister der israelitischen Gemeinde
    • Grundbuch Lübeck innere Stadt, Band 58, Blatt 1717, St. Annen-Straße 12

  • Bundesarchiv: Gedenkbuch, Opfer der Verfolgung der Juden unter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft in Deutschland 1933-1945,
  • www.bundesarchiv.de/gedenkbuch
  • Datenpool JSHD der Forschungsstelle “Juden in Schleswig-Holstein” an der Universität Flensburg
  • Digital Monument to the Jewish Community in the Netherlands: www.joodsmonument.nl
  • Institute for Concrete Matter (ICM), Haarlem, Niederlande, Fotos und Dokumente der Familie Emmering, die bei Renovierungsarbeiten in einem Haus in Amsterdam gefunden wurden
  • Memorbuch zum Gedenken an die jüdischen, in der Schoa umgekommenen Schleswig-Holsteiner und Schleswig-Holsteinerinnen, hrsg. V. Miriam Gillis-Carlebach, Hamburg 1996
  • Sterbebuch Auschwitz, Archiv des Museums Auschwitz
  • Wikipedia zu Het Apeldornsche Bosch
  • Wim de Wagt, Post voor de Familie Emmering, Essay, in Auszügen veröffentlicht auf: www.wimdewagt.nl
  • ders.: Het geheugen van de kunst (The Memory of Art), erscheint April 2013 Ein Kapitel des Buches schildert die Geschichte der Familie Emmering aus Groningen, Lübeck und Amsterdam
  • Yad Vashem, The Central Database of Shoah Victims’ Names
  • Zeitzeugengespräche


Heidemarie Kugler-Weiemann, 2013