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Im Haus Engelswisch 29 wohnte die Familie Emmering.

Im Engelswisch 29, einem kleinen zweistöckigen Haus, das später abgerissen und durch einen größeren Neubau über mehrere Hausnummern ersetzt wurde, lebten zu Beginn der 1930er Jahre bis zu ihrer Flucht nach Holland Aron Adolf Emmering, seine Frau Franziska Rosa, geb. Blumenthal, und ihre Tochter Ingrid. Die dreiköpfige junge Familie bewohnte eine kleine Wohnung im ersten Stockwerk.

ganz rechts: Engelswisch 29 [1]
ganz rechts: Engelswisch 29 [1]
Bebauung heute: Engelswisch 29 stand ungefähr dort, wo jetzt die Umspannstation ist. [2]
Bebauung heute: Engelswisch 29 stand ungefähr dort, wo jetzt die Umspannstation ist. [2]

Aron Adolf Emmering war als Sohn des holländischen Händlers Benjamin Emmering und seiner aus Moisling stammenden Frau Sara Goge am 25.8.1904 in Losdorp in der Provinz Groningen im Norden Hollands zur Welt gekommen. Als er vier Jahre alt war, zogen die Eltern mit ihm und seiner 1906 geborenen Schwester Elena nach Lübeck. Hier wurde 1909 seine Schwester Eva geboren.

Nach mehreren Umzügen in der Altstadt fand die Familie ihr Zuhause in einem eigenen Haus in der Opens internal link in current windowSt. Annen-Straße 12, schräg gegenüber von der Synagoge. Im Erdgeschoss befand sich das Geschäft für Gebrauchtwaren. "An- und Verkauf von Kleidung, Betten, Möbel usw. B. Emmering" stand an der Hauswand. So wuchs Aron Adolf Emmering in Lübeck auf und ging hier zur Schule. Nach dem Abschluss der Mittelschule für Jungen im Februar 1919 begann er eine Lehre als Verkäufer in der Firma von Isaak Frankenthal, einem Handel für Felle und Tierhaare.

Sicher dürfte er nach Abschluss dieser Ausbildung zunächst weiter in Lübeck im Handel gearbeitet haben, doch 1924 ging der Zwanzigjährige nach Paris, wie aus seinen Papieren hervorgeht, die erst vor wenigen Jahren in einem Haus in Amsterdam entdeckt wurden. Welche Zukunftsträume ihn nach Paris gezogen haben, darüber geben die Papiere keine Auskunft. Aron Adolf Emmering versuchte Arbeit zu finden, konnte aber offenbar nur als Gelegenheitsarbeiter in der Stadt und ihrer Umgebung Geld verdienen.

Gewerbeanmeldeschein 1930 [3]
Gewerbeanmeldeschein 1930 [3]

 

1926 reiste er nach Holland, um dort seinen Militärdienst abzuleisten. Anschließend arbeitete er für kurze Zeit im Bergbau in Limburg und kehrte dann Ende August 1927 nach Lübeck zurück. Hier fand er eine Stelle als Kurier für den Lübecker Lesezirkel „Thalia“.

 

 

 

Als er dort 1929 entlassen wurde, machte er sich 1930 im Alter von sechsundzwanzig Jahren mit einem Altwarenhandel selbständig.

Ebenfalls im Jahr 1930 wurde in den Mitteilungen aus der Israelitischen Gemeinde Lübeck unter der Rubrik "Persönliches" die Verlobung von "Frl. Fränzi Blumenthal und Herrn Adolf Emmering" angezeigt (Tamus 5690, 2. Jahrgang Nr. 6, Juli 1930).

Franziska Rosa Blumenthal war am 30. April 1907 in Hamburg geboren als ältestes Kind des aus Lübeck stammenden Händlers Martin Blumenthal und seiner Frau Elsa, geb. Wolff, aus Stargard. Kurz nach der Geburt von Fränzi war die Familie aus Hamburg nach Lübeck umgezogen und hatte eine Wohnung sowie ein Ladengeschäft in der Beckergrube 74 gefunden. Mit dem jüngeren Bruder Max Julius, 1908 in Lübeck geboren, wuchs Fränzi Blumenthal in Lübeck auf, besuchte hier die Schule und auch den Religionsunterricht in der Synagoge.

Adolf Emmering mit seiner Tochter Ingrid (ca. 1934 in Lübeck) [4]
Adolf Emmering mit seiner Tochter Ingrid (ca. 1934 in Lübeck) [4]

 

Wann und wie sich Adolf Emmering und Fränzi Blumenthal kennenlernten und ineinander verliebten, ist nicht bekannt. Die beiden heirateten nach kurzer Verlobungszeit am 28. August 1930; Eile schien durchaus geboten, denn am 8. Januar 1931 kam ihre Tochter Ingrid zur Welt.

 


Ab 1932 war die junge Familie hier im Engelswisch 29 gemeldet. Ein eigenes Geschäft für Herrenbekleidung hatten sie mittlerweile in der Marlesgrube 13 eröffnet. Eltern und weitere Verwandte lebten in der Nähe.

Mit dem Beginn der nationalsozialistischen Herrschaft allerdings wurde die Lage auch dieser jüdischen Familie bedrohlich. Das eigene Ladengeschäft ließ sich offenbar nur noch für kurze Zeit aufrecht erhalten.

Erlaubnis für "ambulantes Gewerbe" (1934) [5]
Erlaubnis für "ambulantes Gewerbe" (1934) [5]

Deshalb versuchte  Aron Adolf Emmering, den Unterhalt seiner Familie zu verdienen, indem er mit einem Lederkoffer voll Kurzwaren, Knöpfen, Zwirn, Gummibändern, Hosenträgern u.ä., unterwegs war, was sicherlich in der jüdischen Bürgern gegenüber immer feindlicher werdenden Umgebung sehr schwierig war. Mit einem Gewerbeschein vom 13.6.1934 erlaubte das Polizeiamt Lübeck. " dem Händler Adolf Emmering, wohnhaft Engelswisch 29 I ... von Haus zu Haus Kurzwaren feilzubieten".

Mit dieser Erlaubnis im Gepäck verließen Aron Adolf und Franziska Emmering mit ihrer Tochter Anfang August 1934 ihr Zuhause in Lübeck und gingen nach Holland, wo sie sich wenige Tage später beim Ordnungsamt in Amsterdam unter der Adresse Uithoornstraat 9 anmeldeten. Ihre holländische Staatsangehörigkeit machte es möglich, Deutschland ohne Probleme zu verlassen und in Holland zu leben. Ihren Hausrat stellten sie zunächst in Lübeck unter.

Liste des in Lübeck untergestellten Hausrats
Liste des in Lübeck untergestellten Hausrats
der Familie Emmering [6]
der Familie Emmering [6]

Elena und Eva Emmering, die Schwestern Aron Adolfs, hatten Deutschland ebenfalls schon verlassen und waren nach Holland gezogen. Der Vater Benjamin Emmering war Anfang September 1932 verstorben. Nur die Mutter Sara sowie Franziska Blumenthals Familie waren noch in Lübeck.

Ihr Bruder Max Julius Blumenthal suchte Zuflucht bei seiner Schwester und dem Schwager in Amsterdam, nachdem er im Juli 1935 von Mitgliedern einer Naziorganisation schwer misshandelt worden war. Als deutscher Staatsbürger sah er sich jedoch in Holland großen Schwierigkeiten gegenüber und konnte keine Arbeits- und Aufenthaltserlaubnis bekommen, so dass er nach Ablauf des Visums im September 1936 nach Lübeck zurückkehren musste. Er nahm eine Arbeit als Lagerist bei der Firma Jacobi auf. Im November 1936 wurde er verhaftet und nach drei Wochen im Gefängnis ins Konzentrationslager Sachsenhausen und später nach Dachau und Buchenwald überführt.

Am 24. März 1938 kehrte Franziska Rosa Emmering noch einmal nach Lübeck zurück. Ihre Mutter war schwer krank und starb kurz darauf am 2. April 1938.

Martin und Else Blumenthal (1934); Aufnahme von Andresen, Breite Straße 41, Lübeck [7]
Martin und Else Blumenthal (1934); Aufnahme von Andresen, Breite Straße 41, Lübeck [7]
Gruß auf der Rückseite
Gruß auf der Rückseite

Am 9. Juni fuhr Fränzi wieder nach Amsterdam. Schweren Herzens dürfte sie den Vater allein in Lübeck zurück gelassen haben und in großer Sorge um den Bruder gewesen sein.

Martin Blumenthal musste nach dem Tod seiner Frau die Wohnung in der Beckergrube 74 verlassen und wohnte zur Untermiete, zunächst in der Opens internal link in current windowKönigstraße 116 bei der jüdischen Wohnungsinhaberin Rosa Taschimowitz, dann in der Opens internal link in current windowHartengrube 5 bei Lissauers und schließlich in der Opens internal link in current windowSophienstraße 1 bei Mansbachers, bevor er Lübeck "n. unbekannt v. amtswegen" verlassen musste. Laut Angaben des Gedenkbuches des Bundesarchivs wurde er am 25. Oktober 1941 von Hamburg aus nach Lodz deportiert und kam im Ghetto Litzmannstadt am 25. April 1942 ums Leben. In der Namensliste der Ghettobewohner von Lodz ist er mit der Adresse Rubens-Straße 2, Wohnung 13, verzeichnet.  
Max Julius Blumenthal konnte dank der intensiven Bemühungen der jüdischen Organisationen Anfang 1939 das Konzentrationslager verlassen und nach Shanghai flüchten.  

Franziska und Ingrid Emmering in Amsterdam (ca. 1936) [8]
Franziska und Ingrid Emmering in Amsterdam (ca. 1936) [8]

Über das Leben von Aron Adolf, Franziska und Ingrid Emmering in Amsterdam ist wenig bekannt. Einige Male zogen sie um, wohnten zuletzt in der Waverstraat 91, I.


Eva und Elena Emmering lebten in der Nähe, ebenso der Onkel Markus Goge mit Frau und Sohn. Sara Emmering, die Mutter bzw. Großmutter, lebte in Apeldorn,
in Het Apeldoornsche Bosch, einem Heim für psychisch kranke jüdische Menschen.
Sie soll nach dem Tod ihres Mannes 1932 in der Lübecker Heilanstalt Strecknitz untergebracht gewesen sein und war 1936 als "unerwünschte Ausländerin" aus ihrer Heimatstadt Lübeck nach Holland abgeschoben worden.

Wann Franziska, Ingrid und Aron Aolf Emmering ins Lager Westerbork kamen, ist nicht bekannt. Ihre persönlichen Unterlagen, Familienfotos und Dokumente, ließen sie in Amsterdam zurück, gaben sie möglicherweise Freunden zur Aufbewahrung, versteckten sie oder ließen sie einfach zurück. Am 8. Juni 1943 wurden Franziska und Aron Adolf Emmering mit ihrer Tochter Ingrid aus Westerbork  nach Polen deportiert, in das Vernichtungslager Sobibor. Sobibor befand sich in einem dünnbesiedelten, waldreichen Sumpfgebiet an der östlichen Grenze des Distrikts Lublin. Hier fanden ab Mai 1942 Massenvernichtungen in Gaskammern statt. Gleich nach ihrer Ankunft wurden die Menschen in angebliche Duschräume getrieben und ermordet, Aron Adolf Emmering am 9. Juni 1943, Franziska Rosa und Ingrid Emmering am 11. Juni 1943.

Ingrid war 12 Jahre alt, ihre Mutter 36 und der Vater 39 Jahre alt.

Ihre Angehörigen lebten zu diesem Zeitpunkt bereits nicht mehr. Eva und Elena Emmering wurden am 30. September 1942 in Auschwitz ermordet, Sara Emmering am 25. Januar 1943.

Der einzige Überlebende der Familie war Max Julius Blumenthal, der Bruder von Fränzi. Er überstand die Kriegsjahre im Ghetto von Shanghai und lebte später in den USA, hatte jedoch Zeit seines Lebens an schweren gesundheitlichen Schäden zu leiden, eine Folge verschiedener ihm zugefügter Verletzungen in den Konzentrationslagern.

Die Papiere von Aron Adolf und Franziska Emmering wurden vor wenigen Jahren bei Bauarbeiten in einem Haus in Amsterdam entdeckt und dem Institute for Concrete Matter (ICM) in Haarlem, Niederlande, zur Verwahrung übergeben. Der Kunsthistoriker und Autor Wim de Wagt begab sich mit den Fotos und Dokumenten auf eine Spurensuche und kam im Laufe seiner Recherchen auch nach Lübeck, wo bereits Stolpersteine in der Opens internal link in current windowSt. Annen-Straße 12 verlegt waren. Dank einer intensiven Zusammenarbeit konnten dann im Frühjahr 2011 auch im Engelswisch drei Stolpersteine verlegt werden, die an Ingrid, Franziska und Aron Adolf Emmering erinnern. Wim de Wagts Buch „Het geheugen van de kunst” (The Memory of Art) erschien 2013. Ein Kapitel des Buches schildert die Geschichte der Familie Emmering in Groningen, Lübeck und Amsterdam.

Bildnachweise

[1] Museum für Kunst und Kulturgeschichte der Hansestadt Lübeck
[2] Heidemarie Kugler-Weiemann
[3]-[8] Institute for Concrete Matter (ICM), Haarlem, Niederlande

Verzeichnis der Quellen außerhalb der Standardfachliteratur

  • Adressbücher und Melderegister der Hansestadt Lübeck
  • Archiv der Hansestadt Lübeck

    • Staatliche Polizeiverwaltung 8, 109, 110
    • Hauptbuch der St. Marien-Mädchenschule
    • Personenstandsregister der israelitischen Gemeinde
    • Grundbuch Lübeck innere Stadt, Band 58, Blatt 1717, St. Annen-Straße 12

  • Bundesarchiv: Gedenkbuch, Opfer der Verfolgung der Juden unter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft in Deutschland 1933-1945: www.bundesarchiv.de/gedenkbuch
  • Datenpool JSHD der Forschungsstelle “Juden in Schleswig-Holstein” an der Universität Flensburg
  • Digital Monument to the Jewish Community in the Netherlands: www.joodsmonument.nl
  • Institute for Concrete Matter (ICM), Haarlem, Niederlande, Fotos und Dokumente der Familie Emmering
  • Landesarchiv Schleswig-Holstein, Entschädigungsverfahren Max Julius Blumenthal

    • Wiedergutmachungskammer des Landgerichts Lübeck Abt. 352.3, Nr. 10638, 9047-9049, 11066;
    • Sozialministerium Abt. 761 Nr. 16290
    • Oberfinanzdirektion Abt. 510, Nr. 8966-8967, 9707

  • Memorbuch zum Gedenken an die jüdischen, in der Schoa umgekommenen Schleswig-Holsteiner und Schleswig-Holsteinerinnen, hrsg. V. Miriam Gillis-Carlebach, Hamburg 1996
  • Sterbebuch Auschwitz
  • Wikipedia zu Het Apeldornsche Bosch
  • Wim de Wagt, Post voor de Familie Emmering, Essay, in Auszügen veröffentlicht auf: www.wimdewagt.nl
  • ders.: Het geheugen van de kunst (The Memory of Art), erschien Juni 2013 ISBN 978 90 5937 336 5, ein Kapitel des Buches schildert die Geschichte der Familie Emmering in Groningen, Lübeck und Amsterdam
  • Yad Vashem, The Central Database of Shoah Victims’ Names
  • Zeitzeugengespräche


Heidemarie Kugler-Weiemann, 2013