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Hartengrube 5

In der Hartengrube 5 war bis 1940 das Zuhause von Rosa Lissauer und ihrer Familie.

Hartengrube 1-9
Das Haus Nr. 5 befand sich von 1922 bis 1931 im Besitz der Familie Lissauer
Fotoarchiv der Hansestadt Lübeck
Hartengrube 1-9
Das Haus Nr. 5 befand sich von 1922 bis 1931 im Besitz der Familie Lissauer
Fotoarchiv der Hansestadt Lübeck

Rosa Lissauer, geborene Gombinski, war am 12. Januar 1876 in Stargard (heute Burg Stargard) in Mecklenburg geboren. Ihr Ehemann, der Produktenhändler Marcus Ephraim Lissauer, gehörte zu der weitverzweigten, seit langem in Lübeck und Moisling ansässigen Familie Lissauer und war am 20.2.1866 in Moisling als Sohn von Ephraim Heymann Lissauer und dessen erster Frau Jette zur Welt gekommen. Er wuchs in Moisling und später in Lübeck auf mit seinen älteren Geschwistern Joseph (1855), Line (1857), Levy (1859) und Jacob (1863) und den drei jüngeren Schwestern Esther (1867), Sara (1869) und Rieke (1871) sowie den beiden Kindern aus der zweiten Ehe des Vaters mit Jette Selig Cohn, Bruder Heymann Ephraim (1877) und Schwester Caroline (1879).

Wo und wie sich Rosa und Marcus Ephraim Lissauer kennengelernt hatten und
wann sie geheiratet hatten, ist nicht bekannt. Ihre beiden älteren Kinder wurden in Schwerin geboren, Ferdinand am 9.2.1909 und Jenny (Jenni) am 29.4.1910. Sohn Georg kam am 20.12.1912 in Lübeck zur Welt.  

Von 1916 an ist Marcus Efraim Lissauer als Händler im Lübecker Adressbuch verzeichnet: zuerst in der Marlesgrube, dann gemeinsam mit seiner Frau Rosa am Kleinen Schrangen 8. Von 1920 bis 1928 wohnte die Familie in der Beckergrube 53 im ersten Stock; das Geschäft, eine „Knochenstelle“,  blieb zunächst am Kleinen Schrangen. Im Januar 1922 konnte Marcus Lissauer das Haus Hartengrube 5 erwerben und betrieb dort im Parterre seinen Produktenhandel. Ab 1928 schließlich befand sich auch die Wohnung der Familie im eigenen Haus in der Hartengrube 5.

Eintragung als Eigentümer im Grundbuch Hartengrube 5
AHL, Grundbuch von Lübeck, Innere Stadt Bd.68, Blatt 2012
Eintragung als Eigentümer im Grundbuch Hartengrube 5
AHL, Grundbuch von Lübeck, Innere Stadt Bd.68, Blatt 2012

In den Jahren 1922 und 1923 inserierten Rosa und Marcus Lissauer etliche Male im Lübecker Generalanzeiger und warben mit aktuellen Slogans für ihre „Produktenbörse“, mehrfach auch auf Plattdeutsch. In Konkurrenz  mit nahezu dreißig weiteren Produktengeschäften forderten sie die Bevölkerung zur Abgabe von Altmaterial aller Art auf. Viele der anderen Firmen wurden von anderen Mitgliedern der großen Lissauer-Familie betrieben. Zu erwähnen ist insbesondere die Rohprodukten-Großhandlung M.H. Lissauer & Co in der Moislinger Allee 2c und ihren Lagern auf der Wallhalbinsel, am Geniner Ufer und in der Großen Petersgrube sowie einer Filiale in Hamburg.

Anzeigen aus den Jahren 1922 und 1923 im Lübecker Generalanzeiger
Repro Albrecht Schreiber
Anzeigen aus den Jahren 1922 und 1923 im Lübecker Generalanzeiger 
Repro Albrecht Schreiber

Die drei Kinder besuchten die öffentlichen Volksschulen der Stadt und erhielten Religionsunterricht in der Synagoge, bis Anfang 1919 noch vom Rabbiner Dr. Salomon Carlebach, nach seinem Tod von dessen Sohn Dr. Joseph Carlebach und schließlich ab November 1921 vom neuen Rabbiner Dr. David Winter.
Jenny Lissauer war von Ostern 1916 bis Ostern 1921 Schülerin der St. Marien-Mädchenschule und besuchte dann ein weiteres Schuljahr lang die Burgschule, wo sie nach insgesamt sechs Schuljahren entlassen wurde. Ob sie noch eine weiterführende Schule besuchte, ließ sich nicht ermitteln, eben so wenig konnte geklärt werden, welche Schulen Ferdinand und Georg besuchten. Ferdinand machte eine Ausbildung zum Handelsgehilfen. Vorübergehend fand er 1926 eine eigene Bleibe in der Hansestraße 97 im dritten Stock, zog dann jedoch wieder zurück zu den Eltern. Möglicherweise war bereits eine Erkrankung  der Grund: Ferdinand Lissauer starb am 31. März 1929 im Alter von gerade 20 Jahren an einer Lungenentzündung in Folge einer Rippenfellerkrankung.  
 
Nur anderthalb Jahre nach diesem schweren Schicksalsschlag für die Familie verstarb auch Marcus Ephraim Lissauer am 22. Dezember 1930 im Alter von 64 Jahren an einer offenen Lungentuberkulose. Vermutlich hatte seine Krankheit schon länger angedauert, wie die finanziellen Schwierigkeiten der Familie ahnen lassen. Im Jahre 1927 nahm das Ehepaar Lissauer über 4000 Goldmark an Krediten bei der August Schmidt'schen Stiftung mit Sitz in Grönwold auf, die durch Hypotheken auf das Haus Hartengrube 5 gedeckt wurden. Unmittelbar nach dem Tode von Marcus Ephraim Lissauer ging das Haus „auf Grund rechtskräftigen Zuschlagsbeschlusses des Amtsgerichts Abt.II in Lübeck vom 30. Dezember 1930“ in den Besitz dieser Stiftung über; die Eintragung ins Grundbuch erfolgte am 16. Februar 1931.
Der Eintrag im Adressbuch lautete fortan: Lissauer, Rosa, Witwe, Hartengrube 5, 1. Stock.
Krankheit und Tod des Vaters dürften die Gründe gewesen sein, dass Jenny Lissauer 1930 zunächst aus Hamburg zur Mutter zurück gekehrt war. Am 31.8.1934 allerdings heiratete sie den Angestellten Karl Blum und zog zu ihm nach Hamburg, wo am 7. Januar 1935 ihr Sohn Manfred zur Welt kam. Die Ehe hielt jedoch nur kurze Zeit. Mit ihrem kleinen Sohn kam Jenny Blum zurück nach Lübeck und wohnte bei ihrer Mutter in der Hartengrube 5, bis diese Anfang 1940 mit Tochter und Enkel aus ihrer Wohnung gewiesen wurde. Alle drei fanden dann Unterschlupf in der Marlesgrube 52 im Haus der jüdischen Familie Langsner.

Mit dieser handschriftlichen Erklärung zeigte Rosa Lissauer dem Lübecker Polizeipräsidenten die Annahme des zusätzlichen Zwangsvornamens an.
AHL, Staatliche Polizeiverwaltung 124
Mit dieser handschriftlichen Erklärung zeigte Rosa Lissauer dem Lübecker Polizeipräsidenten die Annahme des zusätzlichen Zwangsvornamens an. 
AHL, Staatliche Polizeiverwaltung 124

Nach ihrer Scheidung ging Jenny Blum nach Berlin, während der kleine Manfred vorerst bei der Großmutter in Lübeck blieb. Im Mai 1941 wurde er im jüdischen Knaben-Waisenhaus in Hamburg am Papendamm 3 untergebracht. Mit seinen dann sechs Jahren war er schulpflichtig geworden, eine öffentliche Schule in Lübeck durfte er als jüdisches Kind nicht besuchen, und die jüdische Volksschule in Lübeck war im Oktober 1940 geschlossen worden. So war offenbar nur eine Einschulung in der letzten jüdischen Schule Hamburgs in der Carolinenstraße 35 möglich.
Wie lange Manfred Blum im Waisenhaus untergebracht war und warum er nicht bei seinem Vater leben konnte, ist nicht bekannt, ebenso wenig, wann ihn seine Mutter zu sich nach Berlin holte.  

Jenny Blum, geborene Lissauer hatte inzwischen erneut geheiratet. Als Jenny Kaminski, geborene Lissauer ist sie im Gedenkbuch des Bundesarchivs verzeichnet.
Demnach wurde sie zusammen mit ihrem Sohn Manfred Blum am 26. Oktober 1942 von Berlin aus nach Riga deportiert. Für beide ist als Todesdatum der 29. Oktober 1942 angegeben. Das Gedenkbuch Riga nennt als ihren letzten Aufenthalt Berlin-Kreuzberg, Mariannenstraße 23. Das damalige Gebäude besteht nicht mehr. 

Mariannenstraße 23 heute
Aufnahmen Januar 2016 von Barbara Putz
Mariannenstraße 23 heute
Aufnahmen Januar 2016 von Barbara Putz

Von dort wurden am 26. Oktober 1942 auch Georg Kaminski (geboren am 17.2.1898 in Berlin) und Judis Kaminski (geboren am 25.1.1942 in Berlin) nach Riga nach Riga abtransportiert. Es liegt nahe zu vermuten ist, dass Georg Kaminski der Ehemann war und dass er und seine Frau Jenny ein gemeinsames zweites Kind bekommen hatten. Mit dem neun Monate alten Baby wurde die Familie in den Tod geschickt. Laut Gedenkbuch gab es unter den 798 Menschen des Transportes vom 26. Oktober 1942 nach Riga keine Überlebenden.  
 
Georg G. Lissauer hatte in Lübeck eine Ausbildung zum Drogisten absolviert und war 1934/35 nach Hamburg gezogen, wo er zunächst im Jugendwohnheim Benekestraße 2 untergebracht war und eine Ausbildung als Gärtner-Volontär machte, vermutlich um sich auf eine Auswanderung nach Palästina vorzubereiten. Anschließend arbeitete er als Laborant. „Ende 1935 klagte das Amtsgericht Lübeck den Zweiundzwanzigjährigen der Übertretung von Paragraph 367 des Strafgesetzbuches an, wobei es vermutlich um einen unerlaubten Umgang mit Arzneimitteln ging, und verurteilte ihn zu einer dreiwöchigen Gefängnisstrafe.“*
Laut Gefangenenkartei sollte seinem 81jährigen Onkel Joseph Lissauer in Hamburg „in besonderen Fällen“ Mitteilung gemacht werden. Nach seiner Entlassung aus Fuhlsbüttel fand Georg Lissauer eine Beschäftigung als Diener bei einem jüdischen Juristen, dem nur noch für die Vertretung jüdischer Mandanten zugelassenen „Rechtskonsulenten“ Dr. Edgar Haas.    

„Am ersten Tag des Pogroms vom November 1938 wurde Georg Lissauer zusammen mit Hunderten Hamburger Leidensgenossen festgenommen, am Folgetag aus der Gestapohaft in das KZ Sachsenhausen gebracht und dort erst am 18. Januar 1939 entlassen.“ * Einen Monat später, im Februar 1939 heiratete er Elfriede Cohn (Jahrgang 1920), die einzige Tochter des Schneiders Samuel Cohn und seiner Frau Sophie,  geborene Koppel, und am 16. Mai 1940 wurde ihr Sohn Uri geboren. Ob ihn seine Lübecker Großmutter Rosa je sehen konnte, ist fraglich.
Georg Lissauer wurde am 8. November 1941 nach Minsk deportiert und dort ermordet; „mit dem am 18. November folgenden Deportationstransport nach Minsk fuhren seine Ehefrau und der kleine Sohn in den Tod.“*

Rosa Lissauer wurde am 6. Dezember 1941 Riga deportiert. Sie war zu diesem Zeitpunkt 65 Jahre alt. Es ist nicht bekannt, ob sie bereits in den ersten Monaten im Lager Jungfernhof an den Folgen von Hunger und Kälte ihr Leben verlor oder ob sie zu den vielen Opfern der beiden Massenerschießungen im Bikerniekiwald im Februar und März 1942 gehörte. Im Herbst 1942, als ihre Tochter Jenny mit ihrer Familie nach Riga deportiert wurde, lebte sie mit größter Wahrscheinlichkeit bereits nicht mehr.
In etlichen Gedenkbüchern ist irrtümlich auch ihr 1930 in Lübeck verstorbener Ehemann Marcus Ephraim Lissauer unter den Opfern der Deportation nach Riga aufgeführt. 

Verzeichnis der Quellen außerhalb der Standardfachliteratur

  • Adressbücher, Meldekartei und Sterberegister der Hansestadt Lübeck

  • Archiv der Hansestadt Lübeck, Staatliche Polizeiverwaltung 25, 109, 110, 124;
      Grundbuch von Lübeck, Innere Stadt Bd. 68, Blatt 2012;
      Gesundheitsamt: Todesbescheinigungen 526/1929 und 1535/1930;
      Personenstandsregister der Israelitischen Gemeinde

  • Buch der Erinnerung, Die ins Baltikum deportierten deutschen, österreichischen und tschechoslowakischen Juden, bearbeitet von Wolfgang Scheffler und Diana Schulle, München 2003

  • Bundesarchiv: Gedenkbuch, Opfer der Verfolgung der Juden unter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft in Deutschland 1933-1945,
    www.bundesarchiv.de/gedenkbuch

  • JSHD Forschungsgruppe "Juden in Schleswig-Holstein" an der Universität Flensburg, Datenpool (Erich Koch)

  • Memorbuch zum Gedenken an die jüdischen, in der Schoa umgekommenen Schleswig-Holsteiner und Schleswig-Holsteinerinnen, hrsg. V. Miriam Gillis-Carlebach, Hamburg 1996

  • Albrecht Schreiber, Hirschfeld, Asch und Blumenthal ,,,, Jüdische Firmen und jüdisches Wirtschaftsleben in Lübeck 1920-1938, Blüte, Enteignung, „Wiedergutmachung“, Lübeck 2015, S. 177-184

  • Albrecht Schreiber, Zwischen Davidstern und Doppeladler, Illustrierte Chronik der Juden in Moisling und Lübeck, Lübeck 1992

  • Jürgen Sielemann, Biografischer Text zu den Stolpersteinen in der Hallerstraße 64 von Georg Gedalja Gerulja Lissauer, Elfriede Lissauer, geb. Cohn und Uri Lissauer, bisher nicht veröffentlichtes Manuskript (Zitate*)

  • Staatsarchiv Hamburg: Kultussteuerkartei der jüdischen Gemeinde, Karteikarte von Georg Lissauer / 362-6/10 Talmud Tora, TT 71, Mikrofilm Sa 1261 Korrespondenz, Blatt 60 

  • Yad Vashem, The Central Database of Shoah Victims’ Names