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St.-Annen-Straße - Franziska Sussmann

Seit dem Jahr 1919 lebte Franziska Sussmann in der St. Annen-Straße 7, zusammen mit ihrer Mutter Jette Sussmann, geborene Philipp. Nach dem Tod von Simon Levin Sussmann am 26.8.1918 hatten Mutter und Tochter das bisherige Zuhause der Familie in Moisling verlassen und im Haus des Ehepaares Alexander Heimann und Betty Lissauer eine neue Wohnung gefunden.

Haus St. Annen Straße 7; Fotoarchiv der Hansestadt Lübeck
Haus St. Annen Straße 7; Fotoarchiv der Hansestadt Lübeck
St. Annen Straße 7 heute; Foto: Heidemarie Kugler-Weiemann
St. Annen Straße 7 heute; Foto: Heidemarie Kugler-Weiemann

Die Sussmanns gehörten zu den schon lange in Moisling ansässigen jüdischen Familien, die 1848 gemeinsam als Lübecker Bürger angenommen wurden. In Moisling war Simon Levin Sussmann 1850 geboren. Wie schon sein Vater wurden er und sein Bruder Bernhard Schlachter und Viehhändler, waren also für die Versorgung der jüdischen Bevölkerung mit koscherem Fleisch und koscheren Fleischwaren zuständig. Im Adressbuch von 1916 findet sich der Name von Simon Sussmann in Moisling als Schlachtermeister eingetragen.

Jette Sussmann, geborene Philipp, war ebenfalls 1850 in Lübeck geboren und stammte aus einer weit verzweigten, lange in Lübeck und Moisling ansässigen Familie.

Archiv der Hansestadt Lübeck, Israelitsche Gemeinde, 4.Familienverzeichnis
Archiv der Hansestadt Lübeck, Israelitsche Gemeinde, 4.Familienverzeichnis

Am 19. Januar 1876 fand die Hochzeit von Simon und Jette Sussmann statt. Das Ehepaar bekam sechs Kinder: Leopold Bergold Levin wurde 1876 geboren, Siegfried Levin 1878, Hannchen 1879 und Franziska am 8. Juli 1884 (machen Quellen zufolge bereits 1881). Die im September 1882 geborenen Zwillinge Herrmann und Salomon starben nach nur zwei Monaten im November 1882.

Die beiden großen Söhne, Franziskas Brüder, erlernten nach Abschluss der Schule den traditionellen Schlachterberuf im Betrieb des Onkels Bernhard Sussmann in der Schmiedestraße 12. Vermutlich sollte der ältere Sohn Leopold das väterliche Geschäft übernehmen. Er hatte das Johanneum besucht.

Zeugnis von Leopold Sussmann, Sommer 1892; Archiv der Hansestadt Lübeck, Schulen, Johanneum 139
Zeugnis von Leopold Sussmann, Sommer 1892; Archiv der Hansestadt Lübeck, Schulen, Johanneum 139

Der jüngere Sohn Siegfried meldete sich 1898 ab "in die Kaserne", wurde Soldat. Laut einer Eintragung im Personenstandsregister der Israelitischen Gemeinde soll er am 28. April 1917 im Lazarett III verstorben sein.

Laut Melderegister des Ordnungsamtes allerdings war es sein Bruder Leopold Bergold, der am 28. April 1917 starb. Dieser dürfte sich freiwillig für den Kriegeinsatz im 1. Weltkrieg gemeldet haben und ums Leben gekommen sein. Auf dem Friedhof in Moisling befindet sich sein Grabstein, und auf einer Gedenktafel in der Friedhofskapelle ist sein Name genannt als einer der "im Weltkrieg gefallenen Söhne". Ob die Familie beide Söhne verloren hat oder ob eine Eintragung fehlerhaft ist, ließ sich bislang nicht klären. Auch was aus der Tochter Hannchen geworden ist, war  nicht festzustellen.

Fest steht, dass Simon Levin Sussmann im folgenden Jahr am 26.8.1918 im Alter von 68 Jahren verstarb und darauf seine Witwe mit der Tochter Franziska Moisling verließ und nach Lübeck zog. Für lange Jahre lebten sie nun in der St.Annen-Straße,  wenige Schritte entfernt von der Synagoge und dem Gemeindezentrum sowie in der Nähe der Verwandten in der Hüxstraße, wohin Bernhard Sussmann Wohnung und Geschäft verlegt hatte.

Am 30. März 1936 starb Jette Sussmann, geborene Philipp im Alter von 86 Jahren.

Ihre Tochter, 52 Jahre alt, wurde sechs Monate später am 12. September 1936 in die Heilanstalt Strecknitz eingeliefert.

Laut einer letzten Eintragung in ihrer Krankenakte soll sie dort am 16. September 1940 verstorben sein, was sich jedoch weder durch die Sterberegister von Standesamt oder Israelitischer Gemeinde noch durch einen Totenschein bestätigen lässt.

Mehreren anderen Quellen zufolge soll Franziska Sussmann am 16. September 1940 nach Hamburg-Langenhorn verlegt worden und von dort am 23. September 1940 in die Landesanstalt Brandenburg deportiert und am selben Tag dort umgebracht worden sein, gemeinsam mit etwa dreißig anderen jüdischen Patienten und Patientinnen aus  den beiden Lübecker Heilanstalten Strecknitz und Vorwerk. In der NS-Tötungsanstalt Brandenburg wurden zwischen Februar und Dezember 1940 8.989 Menschen in einer Gaskammer ermordet.

Es wäre zu wünschen, dass Franziska Sussmann dieses Schicksal tatsächlich erspart geblieben ist.

Ihren letzten Wohnsitz, allerdings nicht mehr freiwillig gewählt, hatten auch andere Menschen in der St. Annen-Straße 7. Nach dem Tod des kinderlosen Ehepaares Lissauer war das Gebäude in den Besitz der israelitischen Gemeinde gekommen. Ab 1938 fanden etliche jüdische Familien hier Unterkunft, nachdem sie ihre bisherigen Wohnungen hatten verlassen müssen.

Hermann Opler wurde von hier im Juli 1941 in eine Heilanstalt in Bendorf / Koblenz "von Amts wegen" eingewiesen. Die Jakobysche Heil- und Pflegeanstalt war zu diesem Zeitpunkt der einzige Ort, wo nervenkranke jüdische Patienten noch behandelt werden durften, und glich dadurch bereits einem Sammellager. Vom 22. März an bis zum 11. November 1942 wurden von dort 573 Menschen in die Vernichtungslager im Osten deportiert, die Heilanstalt wurde geschlossen. Laut Gedenkbuch des Bundesarchiv wurde Hermann Opler in Izbica bei Lublin ermordet.

Jakob und Rosa Fordonski kamen 1939 aus Rendsburg, wo Jakob der letzte Gemeindediener der jüdischen Gemeinde gewesen war. Da er zum Christentum konvertiert war, durfte er am Schabbat Arbeiten verrichten. Das Ehepaar sollte in der sog. Polenaktion abgeschoben werden nach Polen, von wo sie 1919 nach Deutschlands eingewandert waren. Jakob Fordonski wurde 1939 hier in Lübeck in Haft genommen und zunächst ins KZ-Sachsenhausen gebracht. Am 3.9.1940 wurde er in das KZ Dachau verlegt und kam dort mit 54 Jahren am 14.5.1941 ums Leben.

Ebenfalls von hier nach Riga deportiert wurden Emma Katz, geborene Cohn, sowie Salomon Selman Selmanson mit seinem Sohn Heinz. An alle drei erinnern Stolpersteine vor ihren letzten freiwillig gewählten Wohnhäusern; ein Stein für Hermann Opler fehlt noch, für das Ehepaar Fordonski sind Gedenksteine in Rendsburg verlegt.

Zu den am 6. Dezember 1941 nach Riga Deportierten gehörten auch die beiden Cousinen von Franziska Sussmann: Mimi und Margarethe Juliane Sussmann. Vor dem Haus Hüxstraße 64 erinnern Stolpersteine an diese beiden Frauen. 

Verzeichnis der Quellen außerhalb der Standardfachliteratur:

  • Adressbücher und Meldekartei der Hansestadt Lübeck
  • Archiv der Hansestadt Lübeck, Staatliche Polizeiverwaltung 109, 110, Personenstandsregister der Israelitischen Gemeinde, Schulen / Johanneum 139
  • Auskünfte von Dr. Peter Delius über die Patientenakte von Franziska Sussmann, und Dr. Frauke Dettmer, Rendsburg, über Jakob und Rosa Fordonski
  • Bundesarchiv: Gedenkbuch, Opfer der Verfolgung der Juden unter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft in Deutschland 1933-1945, www.bundesarchiv.de/gedenkbuch
  • Datenpool JSHD der Forschungsstelle “Juden in Schleswig-Holstein” an der Universität Flensburg
  • Delius, Peter: Das Ende von Strecknitz, Die Lübecker Heilanstalt und ihre Auflösung 1941, Ein Beitrag zur Sozialgeschichte der Psychatrie im Nationalsozialismus, Kiel 1988
  • Klatt, Ingaburgh: “...dahin wie ein Schatten”, Aspekte jüdischen Lebens in Lübeck, Lübeck 1993
  • Lilienthal, Georg: Jüdische Patienten als Opfer der NS-"Euthanasie"-Verbrechen, in: Medaon, Magazin für Jüdisches Leben in Forschung und Bildung 5/2009, www.medaon.de
  • Memorbuch zum Gedenken an die jüdischen, in der Schoa umgekommenen Schleswig-Holsteiner und Schleswig-Holsteinerinnen, hrsg. V. Miriam Gillis-Carlebach, Hamburg 1996
  • Museen für Kunst und Kulturgeschichte der Hansestadt Lübeck, Fotoarchiv
  • Albrecht Schreiber, Zwischen Davidstern und Doppeladler, Illustrierte Chronik der Juden in Moisling und Lübeck, Lübeck 1992
  • Yad Vashem, The Central Database of Shoah Victims’ Names
  • Zeitzeugengespräche

Heidemarie Kugler-Weiemann, 2011