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St. Annen-Straße 11 - Recha Saalfeld

Von 1936 bis 1942 lebte Recha Rosa Saalfeld, geborene Levy (Levin), im Altersheim der Jüdischen Gemeinde in der St. Annen-Straße 11.

St. Annen-Straße 11 (März 2010) [1]
St. Annen-Straße 11 (März 2010) [1]

Sie war am 23. September 1853 (laut anderen Quellen 1854) in Segeberg geboren und hatte am 6. Juli 1881 nach Lübeck geheiratet. Ihr Mann Siegfried Selig Saalfeld war 1846 in Moisling geboren und gehörte in eine der lange schon dort ansässigen Familien. Das einzige Kind des Ehepaares, der Sohn Albert, kam am 29.6.1882 zur Welt. Zunächst lebte die kleine Familie in der Schildstraße 20, dem Wohn- und Geschäftssitz der Familie Saalfeld in Lübeck. 

1908 wurde der Maler und Lackierer Siegfried Selig Saalfeld lübeckischer Staatsbürger, und im Jahr 1926 erwarb er ein eigenes Haus in der Marlesgrube 14, wo er den Lebensunterhalt seiner Familie mit einem Mobilien- und Antiquitätenhandel verdiente. Schräg gegenüber in der Marlesgrube 7 wohnte sein jüngster Bruder Jacob Saalfeld mit seiner Frau Fanni, der jüngeren Schwester von Recha, und den vier Kindern Franziska, Leopold, Regina und Mindel. Der Uhrmacher Jacob Saalfeld führte ebenfalls einen Antiquitätenhandel.

Es ist anzunehmen, dass Albert Saalfeld zunächst die Elementarschule der Israelitischen Gemeinde in den Räumen der Synagoge in der St. Annen-Straße besuchte, bevor er in die Großheim'sche Realschule an der Parade 2 kam, eine renommierte private Schule.

Zeugnis der Dr. G.A. Reimann‘schen
Zeugnis der Dr. G.A. Reimann‘schen
Realschule zu Lübeck vom 1. April 1898 [2]
Realschule zu Lübeck vom 1. April 1898 [2]

Nach Beendigung seiner Schulzeit machte Albert Saalfeld eine kaufmännische Ausbildung und zog dann nach Berlin, wo er die zehn Jahre jüngere Klara Jarosch aus Bitterfeld heiratete. Ihre Tochter Ruth kam am 30.7.1914 in Berlin zur Welt.
Albert Saalfeld meldete sich als Freiwilliger zum Kriegseinsatz und kam im Oktober 1917 im 1. Weltkrieg ums Leben. Während der Kriegsjahre lebte seine Frau mit der kleinen Tochter bei den Schwiegereltern in Lübeck, ging aber nach Ende des Krieges 1918 mit dem Kind wieder nach Berlin zurück.

So lebten nun Siegfried und Rosa Saalfeld allein, doch in unmittelbarer Nähe ihrer nahen Verwandten. Die älteren Kinder der Geschwister verließen in den folgenden Jahren ebenfalls die Stadt, und 1924 starb Rosas Schwester Fanni im Alter von 67 Jahren.
1933 war Rosa Saalfeld 79 Jahre alt, Siegfried Saalfeld bereits 86. Über eine Auswanderung dürfte das Ehepaar allein aufgrund seines hohen Alters wohl nicht nachgedacht haben.

Ende Februar 1935 verlor Recha Rosa Saalfeld ihren Mann: Siegfried Selig Saalfeld starb im Alter von 88 Jahren in seiner Wohnung an Herzschwäche. Nach dem Totenschein, der vom jüdischen Arzt Horwitz ausgestellt wurde, hatte er außerdem an einer Altersdemenz gelitten.
Drei weitere Todesfälle im Jahr 1935 veränderten die Situation in der Familie dramatisch: Der Schwiegersohn Jacob Saalfelds, Max Rosenthal, starb mit nur 50 Jahren an einer Lungentuberkulose. Friederike Saalfeld, die Schwester von Jacob und Siegfried Saalfeld, brach sich bei einem Sturz den Oberschenkelhals und verstarb Ende November an einer Lungenentzündung, die sie sich im Krankenhaus zugezogen hatte. Und am 25.12.1935 erlag auch Jacob Saalfeld einem Herzinfarkt.

Sollte es bei seinen Kindern Überlegungen gegeben haben, aus Deutschland zu flüchten, so dürfte die jetzt entstandene Situation mit allen Sorgen, der Trauer und den wachsenden finanziellen Problemen kaum noch eine Möglichkeit gelassen haben, eine Auswanderung zu organisieren.

Im Februar 1936 zog die nun 82 jährige Recha Rosa Saalfeld in das Altersheim der Jüdischen Gemeinde in der St. Annen-Straße 11. Ihr Haus in der Marlesgrube 14 wurde verkauft, ebenso die anderen Häuser im Familienbesitz, Schildstraße 20 und Marlesgrube 7. Aufgrund der mittlerweile geltenden antijüdischen Bestimmungen dürften sie der Familie nur geringe Erlöse gebracht haben.

Im Altersheim musste Rosa Saalfeld in den folgenden Jahren erleben, wie die jüdischen Menschen immer stärker gedemütigt und entrechtet wurden, die Synagoge zerstört und schließlich die gesamte Familie aus ihrer Heimat vertrieben und ausgelöscht wurde.

Schreiben wegen Zwangsname [3]
Schreiben wegen Zwangsname [3]






Mit diesem Zettel erklärte Recha Rosa Saalfeld im Januar 1939 gegenüber den Polizeibehörden die Annahme des Zwangs-
vornamens Sara.

Ende Oktober 1941 wurden ihre Nichten Mindel Saalfeld und Franziska Mindus, diese mit ihrem Mann, dem Bankbeamten Siegmund Mindus, und den beiden Söhnen Julius und Werner von Hamburg aus ins Ghetto Lodz deportiert. Ob sie später in Chelmo vergast wurden oder auf andere Weise ihr Leben verloren, ist nicht bekannt.

Am 6. Dezember 1941 wurden die meisten der noch in Lübeck lebenden Juden nach Riga deportiert, darunter auch Rosa Saalfelds Neffe Leopold Saalfeld mit seiner Frau Helene sowie die fünfzehnjährige Tochter Margot und ihre Nichte Regina Rosenthal  mit ihrer dreizehnjährigen Tochter Fina. Alle verloren in Riga ihr Leben. Ob sie bereits in den ersten Wintermonaten im KZ Jungfernhof durch Hunger und Kälte starben oder ob sie zu den Opfern der Massenerschießungen im Februar und März 1942 im Bikerniekiwald von Riga gehören, ist nicht bekannt.

Nur ihrer Schwiegertochter Klara war mit der Enkelin Ruth die Flucht in die USA gelungen.

Todesfallanzeige aus dem Ghetto Theresienstadt [4]
Todesfallanzeige aus dem Ghetto Theresienstadt [4]

Recha Rosa Saalfeld wurde am 19. Juli 1942 nach Theresienstadt deportiert und kam dort zwei Monate später am 10. September 1942 ums Leben, kurz vor ihrem 88. (oder sogar 89.) Geburtstag. Als Todesursache gab die Ghettoärztin eine Darmentzündung an.



In Hamburg erinnern vor dem Haus Rutschbahn 41 vier Stolpersteine an Franziska Mindus, geb. Saalfeld, ihren Mann Siegmund und die beiden Söhne Julius und Werner, und in der Carl-Petersen-Straße 29 findet sich ein Gedenkstein für Mindel Saalfeld.

In Lübeck erinnern Stolpersteine an Leopold Saalfeld, seine Frau Helene und seine Tochter Margot in der Opens internal link in current windowFleischhauerstraße 1 und an Regina Rosenthal, geb. Saalfeld, und ihre Tochter Fina in der Opens internal link in current windowMarlesgrube 9

Bildnachweise

[1] Heidemarie Kugler-Weiemann
[2] Archiv der Hansestadt Lübeck
[3] Archiv der Hansestadt Lübeck, Staatliche Polizeiverwaltung 124
[4] Internet-Datenbank der Gedenkstätte Theresienstadt: www.holocaust.cz

Verzeichnis der Quellen außerhalb der Standardfachliteratur

  • Adressbücher und Meldekartei der Hansestadt Lübeck
  • Archiv der Hansestadt Lübeck, Staatliche Polizeiverwaltung 109, 110, 124
  • Personenstandsbücher Israelitische Gemeinde Bd. 4, Familienverzeichnis, Schulen, Großheim'sche Realschule
  • Buch der Erinnerung, Die ins Baltikum deportierten deutschen, österreichischen und tschechoslowakischen Juden, bearbeitet von Wolfgang Scheffler und Diana Schulle, München 2003
  • Datenpool JSHD der Forschungsstelle "Juden in Schleswig-Holstein" an der Universität Flensburg
  • Ingaburgh Klatt, "... dahin wie ein Schatten", Aspekte jüdischen Lebens in Lübeck, Lübeck 1993
  • Internet-Datenbank der Gedenkstätte Theresienstadt: www.holocaust.cz
  • Memorbuch zum Gedenken an die jüdischen, in der Schoa umgekommenen Schleswig-Holsteiner und Schleswig-Holsteinerinnen, hrsg. v. Miriam Gillis-Carlebach, Hamburg 1996
  • Yad Vashem, The Central Database of Shoah Victims Names
  • Zeitzeugengespräche


Heidemarie Kugler-Weiemann, 2013