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Marlesgrube 9 - Regina Rosenthal und Tochter

In der Marlesgrube 9 wohnten Regina Rosenthal, geborene Saalfeld, und ihre Tochter Fina.

Vom ehemaligen Gebäude, das später beim Bombenangriff zerstört wurde, konnte bisher noch kein Foto gefunden werden. Auch von Regina und Fina Rosenthal gibt es kein Foto, und es ist wenig von ihnen bekannt. Im Adressbuch findet sich die Eintragung: Marlesgrube 9, 2.Stock, Rosenthal, Regina, Witwe.

Regina Rosenthals Eltern waren der Uhrmachermeister Jacob Saalfeld und seine Frau Fanni, geborene Levy. Die Saalfelds gehörten zu den jüdischen Familien, die schon lange in Lübeck und davor in Moisling ansässig waren und im Jahre 1848 vom Lübeckischen Staat verpflichtet wurden, feste Familiennamen anzunehmen, was bei Juden zuvor nicht generell üblich war. Jacob Saalfeld wurde im Jahre 1907 Lübecker Staatsbürger. Im  Haus Marlesgrube 7, das sein Eigentum war, führte er sein Antiquitätengeschäft und lebte dort mit seiner Frau und den vier Kindern Franziska, Leopold, Regina und Mindel. Auch sein älterer Bruder Selig Samuel Saalfeld, Siegfried genannt, lebte in der Marlesgrube. Schräg gegenüber in der Nummer 14 hatte er ein Antiquitätengeschäft. Seine Frau Rosa, geborene Levy aus Segeberg, war eine ältere Schwester von Fanni. Das Ehepaar hatte einen Sohn Albert, der im Ersten Weltkrieg freiwillig Soldat wurde und im Oktober 1917 fiel. Seine Frau Klara, die während der Kriegsjahre mit ihrem Kind bei den Schwiegereltern in Lübeck gelebt hatte, ging 1918 zurück nach Berlin, wo ihre Tochter Ruth am 30.7.1914 geboren worden war.

Wenig später verließen auch die älteren Kinder von Jacob und Fanni Saalfeld die Marlesgrube. Franziska heiratete 1920 den Hamburger Bankbeamten Siegmund Mindel. 1923 wurde ihr Sohn Julius geboren, 1924 Werner. Leopold Saalfeld zog 1922 nach Leipzig.

1924 starb Fanni Saalfeld im Alter von 67 Jahren, so dass Jacob Saalfeld mit seiner jüngsten Tochter Mindel allein in der Marlesgrube 7 wohnte, die Tochter Regina aber in nächster Nachbarschaft. Sie heiratete den Antiquitätenhändler Max Rosenthal. Fina wurde am 17. Juli 1928 geboren.

1933 kehrte auch Leopold Saalfeld nach Lübeck zurück, mit seiner Frau Helene und der Tochter Margot Fanny, die am 20. April 1926 in Leipzig geboren worden war. Zunächst wohnten sie in der Marlesgrube 7, später in der Fleischhauerstraße 1.

Das Jahr 1935 brachte für die Familie durch vier Todesfälle erhebliche Veränderungen. Ende Februar starb im Alter von 88 Jahren Selig Samuel Saalfeld. Nur einen Monat später, am 24. März 1935, starb Max Rosenthal, Finas Vater und Reginas Ehemann im Alter von nur 50 Jahren. Eine Lungentuberkulose sowie ein Geschwür am Kehlkopf hatten zu tödlichen Erstickungsanfällen im Allgemeinen Krankenhaus Lübeck geführt. Zu diesem Zeitpunkt war Fina gerade sieben Jahre alt und wurde zwei Monate später in die Jüdische Volksschule in der St. Annen-Straße eingeschult. Ein ehemaliger Mitschüler erinnert sie als ein kleines, dünnes, recht schüchternes Mädchen.

Ende November verstarb Friederike Saalfeld, eine Schwester von Jacob Saalfeld und dann am 25.12.1935 Jacob Saalfeld, wie sein älterer Bruder an akuter Herzschwäche.

Sollte es in der Familie Überlegungen gegeben haben, Deutschland zu verlassen, so dürfte die jetzt entstandene Situation mit allen Sorgen, aller Trauer, aber auch allem, was zu regeln war, und sicherlich wachsenden finanziellen Problemen kaum noch eine Möglichkeit gelassen haben, eine Ausreise zu organisieren. Siegfried Saalfelds Witwe Rosa zog im Februar 1936 in die St.Annen-Straße 11, das Altersheim der Jüdischen Gemeinde. Mindel Saalfeld ging 1937 nach Hamburg. Der Verkauf der Häuser Marlesgrube 7 und 14 dürfte aufgrund der mittlerweile geltenden Bestimmungen nur geringe Erlöse erbracht haben.

Mit dieser Erklärung nahmen Regina und Fina Rosenthal die verordneten Zwangsnamen an
Mit dieser Erklärung nahmen Regina und Fina Rosenthal die verordneten Zwangsnamen an

1940 wurde die Jüdische Volksschule in der St.Annen-Straße geschlossen, und Fina musste wie andere Lübecker Kinder, darunter ihre Cousine Margot, die Jüdische Schule in der Karolinenstraße in Hamburg besuchen.

Im Lübecker Archiv findet sich in den Akten der Staatlichen Polizeiverwaltung ein Antrag von Regina Rosenthal vom 20. Oktober 1940, nach Hamburg fahren zu dürfen, um Fina dort in einer anderen Pension unterzubringen, sowie die polizeiliche Erlaubnis "zum einmaligen Verlassen der Wohngemeinde" Lübeck und am 26. Oktober 1940 mit der Eisenbahn nach Hamburg und zurück fahren zu dürfen.

Polizeiliche Erlaubnis für eine Fahrt nach Hamburg; Archiv der Hansestadt Lübeck, Polizeiverwaltung 121
Polizeiliche Erlaubnis für eine Fahrt nach Hamburg; Archiv der Hansestadt Lübeck, Polizeiverwaltung 121
Regina Rosenthal beantragt eine Fahrtgenehmigung nach Hamburg; Archiv der Hansestadt Lübeck, Polizeiverwaltung 121
Regina Rosenthal beantragt eine Fahrtgenehmigung nach Hamburg; Archiv der Hansestadt Lübeck, Polizeiverwaltung 121

In den Unterlagen der Schule in der Karolinenstraße finden sich Finas  Anmeldung vom 7. Oktober 1940 und ihr Zeugnisbogen mit den Zensuren zweier Halbjahre. Noten gab es für Betragen, Fleiß, Aufmerksamkeit und Ordnung sowie für die Unterrichtsfächer Bibel, Hebräisch, Jüdische Geschichte, Deutsch, Erdkunde, Englisch, Rechnen, Zeichnen, Handfertigkeit und Turnen. In Turnen erhielt Fina eine Eins, sonst waren die Noten meist Dreien und Vieren. 1941 wurde Fina in die sechste Klasse versetzt. Ihre Klassenlehrerin war Rebecca Rothschild, die anderen ehemaligen Schülerinnen als liebevolle Pädagogin in Erinnerung geblieben ist. Sie wurde am 25. Oktober 1941 mit dem ersten Transport aus Hamburg nach Lodz deportiert, mit dem auch die beiden Schwestern Regina Rosenthals Mindel und Franziska mit ihrem Mann und den beiden Söhnen ins Getto Lodz kamen und ihr Leben verloren.

Der Evakuierungsbefehl holte Fina Rosenthal zurück nach Lübeck. Am 6. Dezember 1941 wurde die Dreizehnjährige mit ihrer Mutter zusammen mit den Verwandten Leopold, Helene und Margot Saalfeld und vielen anderen jüdischen Menschen aus Lübeck und Hamburg nach Riga deportiert. Fina und Regina Rosenthal haben nicht überlebt, auch ihre Verwandten nicht. Es ist nicht bekannt, ob sie bereits in den ersten Wintermonaten im KZ Jungfernhof durch Hunger und Kälte gestorben oder ob sie bei einer der beiden Massenerschießungen im Februar und März 1941 im Bikerniekiwald von Riga ermordet wurden.

Die 83jährige Rosa Saalfeld wurde am 19.7.1942 nach Theresienstadt deportiert und starb dort zwei Monate später. So wurde eine ganze Familie aus ihrer Heimat vertrieben und ausgelöscht.

Verzeichnis der Quellen außerhalb der Standardfachliteratur:

  • Adressbücher und Meldekartei der Hansestadt Lübeck
  • Archiv der Hansestadt Lübeck, Staatliche Polizeiverwaltung 109, 110, 121, 124, Amt für Schulwesen 879. Jüdische Voksschule, Schul- und Kultusverwaltung 375, Personenstandsbücher Israelitische Gemeinde Bd. 4, Familienverzeichnis
  • Buch der Erinnerung, Die ins Baltikum deportierten deutschen, österreichischen und tschechoslowakischen Juden, bearbeitet von Wolfgang Scheffler und Diana Schulle, München 2003
  • Datenpool JSHD der Forschungsstelle "Juden in Schleswig-Holstein" an der Universität Flensburg
  • Josef Katz, Erinnerungen eines Überlebenden, Kiel 1988
  • Ingaburgh Klatt, "... dahin wie ein Schatten", Aspekte jüdischen Lebens in Lübeck, Lübeck 1993
  • Landgericht Hamburg vom 29.12.1951, (50) 14/50. Lfd. Nr. 307: NS-Gewaltverbrechen in Lagern / Riga Lettland
  • Memorbuch zum Gedenken an die jüdischen, in der Schoa umgekommenen Schleswig-Holsteiner und Schleswig-Holsteinerinnen, hrsg. v. Miriam Gillis-Carlebach, Hamburg 1996
  • Ursula Randt, Die Talmud Tora Schule in Hamburg 1805 bis 1942, Hamburg 2005
  • Dies., Carolinenstraße 35, Geschichte der Mädchenschule der Deutsch-Israelitischen Gemeinde in Hamburg 1884 - 1942, Hamburg 1984
  • Staatsarchiv Hamburg  362-6/10 Talmud Tora
  • Yad Vashem, The Central Database of Shoah Victims Names
  • Zeitzeugengespräche

Heidemarie Kugler-Weiemann, 2008