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Schwartauer Allee 9a - Gertrud Kendziorek

Die Familie Kendziorek kam Ende 1938 nach Lübeck. Sie hatten in Soldin in der Neumark gelebt, wo Kurt Kendziorek ein Fuhrgeschäft mit Ferntransportunternehmen, eine Tankstelle und einen Garagenhof betrieb. Seine Firma hatte fünf Lastzüge für den Fernverkehr.

Kurt Alfons Kendziorek war am 4.7.1896 in Neustadt / Warthe geboren,  seine Frau Gertrud, geborene Aronsohn am 16.6.1893 in Gnesen.

Inge und Erika Kendziorek in Soldin / Neumark
Inge und Erika Kendziorek in Soldin / Neumark
Inge Kenziorek mit dem Hund der Familie in Soldin / Neumark
Inge Kenziorek mit dem Hund der Familie in Soldin / Neumark

Ihre jüngere Tochter Inge Marion wurde am 5. Juni 1924 in Soldin geboren, während Erika, die ältere, am 31. Oktober 1921 noch in Stargard geboren war. Die Eltern von Frau Kendziorek besaßen in Pyritz ein Getreidegeschäft. Massive Boykottmaßnahmen zwangen sie zur Aufgabe, und sie zogen 1937 nach Hamburg, wohin ihnen die Kendzioreks im Sommer 1938 folgten, als es auch Kurt nicht mehr gelang, sein Geschäft in der Kleinstadt Soldin trotz aller Schikanen aufrecht zu erhalten. Nach einem halben Jahr in Hamburg zog die Familie weiter nach Lübeck in die Schwartauer Allee 9a.

Erika Richter, geborene Kendziorek, erinnerte sich, dass ihre Familie am 31. Oktober 1938 von Hamburg nach Lübeck umgezogen sei und in einer "jüdischen Villa" gewohnt habe mit der Familie Isaac. Da sei ein Sohn gewesen, der Werner geheißen habe, und nebenan hätten seine Cousine und Cousin gewohnt. Kurt sei in ihrem Alter und Helga etwa im Alter ihrer Schwester Inge (Jahrgang 1924) gewesen sein. Mit diesen Nachbarskindern hätten sie verkehrt. Außerdem hätte noch das Ehepaar Isaaksohn und eine weitere jüdische Familie im Haus gewohnt, die später ausgewandert sei. Bei dieser Familie dürfte es sich um Eisig Gutmann mit seiner Frau Margarete, geb. Blumenthal und ihre Söhne David und Hans handeln, die kurzzeitig ebenfalls  im Haus 9a wohnten. Sie konnten im Dezember 1938 nach Schanghai flüchten. Zunächst sei den Lübecker Behören nicht bekannt gewesen, dass Kendzioreks Juden waren, doch dann hätten sie es gemeldet, um nicht denunziert zu werden.

Erika Kendziorek hatte mit sechzehn die Schule verlassen, war aber für die von ihr gewünschte Ausbildung als Säuglingsschwester noch zu jung und blieb deshalb zu Hause und unterstützte ihre Mutter im Haushalt. Dadurch erlernte sie keinen Beruf. Ihre Schwester Inge hatte in Hamburg eine Ausbildung als Friseurin begonnen.

Zwangsnamen Gertrud und Kurt Kendziorek; Archiv der Hansesstadt Lübeck, Staatliche Polizeiverwaltung 124
Zwangsnamen Gertrud und Kurt Kendziorek; Archiv der Hansesstadt Lübeck, Staatliche Polizeiverwaltung 124

Im Mai 1940 wurde Kurt Kendziorek bei der Firma Engelhardt & Söhne als Arbeiter zwangsverpflichtet. In dieser Weingroßhandlung in der Schmiedestraße 5/7 machte zu dieser Zeit auch der junge Lübecker Kurt Jepsen seine kaufmännische Ausbildung. Er erinnerte Kurt Kendziorek deutlich als einen sehr lebhaften, vitalen, positiv eingestellten und fröhlichen Menschen, der schnell dachte und arbeitete und viele Ideen gehabt hätte. Im Weinlager sei er nach kurzer Zeit der beste Mann gewesen (Gespräch mit Kurt Jepsen Ende 2007).

Der Enkel Kurt Kendzioreks schrieb dazu in einem Brief:

"... Nun zu Opa Kurt - es freut mich, dass Herr Jepsen ihn so erinnert. Ich glaube, das "schnelle Denken, Arbeiten und die vielen Ideen " müssten ihm entscheidend geholfen haben, die KZ-Zeit mit seinen Töchtern zu überleben. Meine Mutter schilderte mir einmal, wie er sofort die Gefährlichkeit der Situation erfasste, als Großmutter von ihm und den Kindern beim beim "Ausladen " "separiert " wurde. Erika berichtete, dass er seiner Frau durch Zeichen versuchte zu bedeuten, dass sie sich irgendwie zu der Gruppe  "gesellen " sollte, bei der er, Erika und Marion sich befanden. Aber - so Erika - ihre Mutter schien die Zeichen nicht deuten zu können und war sich offenbar der immanenten Todesgefahr nicht bewusst."

(2. Januar 2008)

In seinen Erinnerungen "Die Geschichte meines Lebens. Wie ein zwölfjähriger jüdischer Junge aus Lübeck und Bad Schwartau die Konzentrationslager überlebte" erwähnt Richard J. Yashek die Familie Kendziorek:

"Im Spätsommer oder frühen Herbst 1941 kam dann eines Tages die Aufforderung, dass wir uns am 3. Dezember mit zwei Koffern a  50 Pfund und einem Rucksack melden sollten. Wir sollten uns am Vorabend im Haus der jüdischen Gemeinde in der St.-Annen-Straße transportbereit zum Arbeitseinsatz im Osten melden. Wir erfuhren nicht, wohin wir fahren sollten und welcher Art unsere Arbeit sein würde. Wir sollten warme Kleidung mitnehmen und Lebensmittel für mehrere Tage, die wir benötigen würden für die Umsiedlung und Arbeit in einem Gebiet, das vom deutschen Heer überrannt worden war. Mehrere Monate lang wurde die Lage immer angespannter. Unsere Familie (das Ehepaar Lucy und Eugen Jaschek mit ihren beiden Söhnen Jürgen und Jochen, 1929 und 1931 geboren) freundete sich an mit der Familie Kurt Kendzioreks und seiner Frau Gertrud und den Töchtern Inge und Erika, die älter als mein Bruder und ich waren. Kurt war Fernfahrer und fesselte mich mit seinen Geschichten, die er aus seinem Leben erzählte.
Die Erwachsenen trafen sich immer und machten Pläne für die unbekannte Zukunft. Die Gesprächsthemen waren weitläufig, als sie darüber spekulierten, was zu erwarten war, und sich fragten, wie die Unterbringung und die Lebens- und Arbeitsbedingungen sein würden. Würden die Familien getrennt werden oder zusammen bleiben? Was sollten wir mitnehmen, was zurücklassen? Wie versteckt man Geld? Sollten wir Wertsachen mitnehmen? Wenn ja, welche? Gold oder Silber, Edelmetalle oder Geld? Es war nur erlaubt, eine goldene Uhr zu besitzen; andererseits hatte in der ganzen Geschichte tragbarer Reichtum Menschen geholfen zu überleben. In dieser unruhigen Zeit verkauften wir, was wir nicht mehr brauchten, und kauften illegal goldene Taschenuhren und etwas Schmuck, um uns so weit als möglich vor künftiger Not zu schützen.
Auch überlegten wir, welche Kleidungsstücke wir mitnehmen sollten - im Osten waren im Winter kältere Temperaturen zu erwarten. Es gab die Feststellung, dass zwei Familien, die zusammenhalten, eine bessere Chance haben würden. Wobei? Wogegen? Was haben sie mit uns vor?"

(S.25)

Am 6. Dezember 1941 ging der sog. Hamburger Transport mit eintausend jüdischen Menschen aus Hamburg und Schleswig-Holstein, darunter die etwa 90 Lübecker, nach Riga. Nach drei Tagen und Nächten endete die Zugfahrt am Bahnhof Skirotova bei Riga. Zu Fuß wurden die Angekommenen von SS-Leuten durch den Schnee zum Lager Jungfernhof getrieben, einem ehemaligen Gutshof an der Daugava. In zwei großen Scheunen wurden auf mehrstöckigen Holzpritschen mehrere tausend Menschen untergebracht, getrennt nach Männern und Frauen. Das mitgebrachte Gepäck wurde ihnen bei der Ankunft weggenommen. Hunger und Kälte, Befehle und Brutalität bestimmten ab sofort den Alltag. Von Dezember 1941 bis zum März 1942 starben auf dem Jungfernhof über 700 Menschen.

"Täglich wurden Leichen aus den engen Etagenbetten gezerrt. Die Kleidung wurde entfernt und die Leichen wurden acht oder zehn Meter hoch übereinander gestapelt. Wir konnten sie nicht begraben, weil der Erdboden hart und tief gefroren war. Die Leichen wurden in der Mitte des Lagers auf zwei Haufen gestapelt."

(Erinnerungen von Richard Yashek, S. 30)

Erst im Mai war die Erde so weit aufgetaut, dass die Häftlinge in tagelanger Arbeit zwei große Massengräber ausheben konnten, um die Leichen zu begraben.

Zu diesem Zeitpunkt befanden sich nur noch wenige hundert arbeitsfähige Menschen auf dem Jungfernhof. Im Februar und März hatten Selektionen stattgefunden; Kinder, ältere Menschen, Kranke und viele andere waren mit Lastwagen abgeholt worden, in den Bikerniekiwald (Hochwald von Riga) transportiert und dort erschossen worden.

Die Familie Kendziorek blieb bis April 1943 auf dem Jungfernhof und wurde zu landwirtschaftlichen Arbeiten eingesetzt. Dann wurde das Lager Jungfernhof aufgelöst, und Kendzioreks kamen für einige Monate in das Ghetto in Riga und mussten an verschiedenen Stellen arbeiten. Die beiden Töchter Erika und Inge wurden im August 1943 in die SS-Werkstätten in Lenta bei Riga geschickt und dort kaserniert, während die Eltern nach Bretscho zu Arbeiten bei der Reichsbahn kamen. Die vergleichsweise "gute" Zeit in Lenta mit regelmäßiger Verpflegung und gewisser medizinischer Versorgung fand für Erika und Inge ein Ende, als sie in das Konzentrationslager Kaiserwald verlegt wurden. Doch dann kamen sie im Austausch mit anderen Häftlingen ebenfalls nach Bretscho.

Gertrud Kendziorek, geb. Aronsohn wurde am 27.7.1944 von ihrer Familie bei einer Selektion getrennt und ermordet.

Kurt Kendziorek und seine beiden Töchter Erika und Marion überlebten unter dramatischen Bedingungen. Anfang August 1944 wurden sie auf Getreideschuten in das KZ Stutthof bei Danzig gebracht.

"Von dort wurden wir nach drei Wochen zum Reichsbahnausbesserungswerk Stolp in Pommern gebracht. Dort blieben wir bis zum 6. oder 7.3.45. Dann wurden wir nach Danzig zurückgebracht, einige Zeit zwischen Danzig und Gotenhafen hin- und herverlegt und schließlich in das Lager Burggraben bei Danzig gebracht. Dann wurden wir wieder nach Stutthof verlegt, wo wir etwa am 25./26.4.1945 wieder rauskamen. Von dort wurden wir über Hela mit Schuten nach Lübeck verladen, wo wir am 2.5.1945 ankamen. Von dort kamen wir nach Neustadt/Holstein, wo wir am 3.5.1945 vom Engländer befreit wurden."

(Kurt Kendziorek, Aussage vom 3.Mai 1954 in einem Entschädigungsverfahren)

Erika Kendziorek 1945
Erika Kendziorek 1945

Im Krankenhaus in Neustadt und anschließend in einem Genesungsheim in Lenste blieben Erika und Inge Kendziorek mit ihrem Vater für etwa ein Jahr, dann gingen sie zurück nach Lübeck.

Schwartauer Allee 9a - Teil 1 | Teil 2 | Teil 3

Verzeichnis der Quellen außerhalb der Standardfachliteratur:

  • Adressbücher und Meldekartei der Hansestadt Lübeck
  • Archiv der Hansestadt Lübeck, Staatliche Polizeiverwaltung 109, 110, 124, 125, 126, Schul- und Kultusverwaltung 375
  • Buch der Erinnerung, Die ins Baltikum deportierten deutschen, österreichischen und tschechoslowakischen Juden, bearbeitet von Wolfgang Scheffler und Diana Schulle, München 2003
  • Datenpool JSHD der Forschungsstelle "Juden in Schleswig-Holstein" an der Universität Flensburg
  • Hans Hirsch Jakobson, Das tragische Schicksal einer Familie in Riga 1941-1945, Stockholm 1992 (unveröffentlicht)
  • Josef Katz, Erinnerungen eines Überlebenden, Kiel 1988
  • Landesarchiv Schleswig, Abt. 352 Kiel, 8264, 13654, 7265, 7219, 9573, 14555, 12968 und Abt. 761, 12239 und 12240
  • Landgericht Hamburg vom 29.12.1951, (50) 14/50, Lfd. Nr. 307: NS-Gewaltverbrechen in Lagern / Riga Lettland
  • Memorbuch zum Gedenken an die jüdischen, in der Schoa umgekommenen Schleswig-Holsteiner und Schleswig-Holsteinerinnen, hrsg. v. Miriam Gillis-Carlebach, Hamburg 1996
  • Albrecht Schreiber, Zwischen Davidstern und Doppeladler, Illustrierte Chronik der Juden in Moisling und Lübeck, Lübeck 1992
  • Yad Vashem, The Central Database of Shoah Victims Names
  • Richard J. Yashek (Jürgen Jaschek), Die Geschichte meines Lebens, Wie ein zwölfjähriger Junge aus Lübeck und Bad Schwartau die Konzentrationslager überlebte, 1996 (deutsche Übersetzung 1998)
  • Zeitzeugengespräche und Schriftwechsel, vor allem mit Erika Richter, geborene Kendziorek und ihrem Sohn (seit 1997)

Heidemarie Kugler-Weiemann, 2008