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Amalie Malka Langsner

Ende November 1901 wurde Amalie Malka Langsner in der Stadt Brzezany in Galizien geboren. Ob sie am 29. oder 30. oder schon am 24. November das Licht der Welt erblickte, darüber sind die Angaben unterschiedlich. Die Ungewissheit über den Tag ihrer Geburt ist allerdings längst nicht die einzige Frage zu ihrem Leben, die sich stellt und bislang nicht beantworten lässt.

DOKUMENT: Karte von Galizien, Fund im Internet
DOKUMENT: Karte von Galizien, Fund im Internet

Amalies Vater war der jüdische Händler und Kaufmann Baruch Langsner, 1873 im galizischen Nadworna geboren. Als seine kleine Tochter zur Welt kam, war er 28 Jahre alt und schon seit 1898 zeitweise in der Freien und Hansestadt Lübeck gemeldet, wo er seine berufliche Existenz aufbauen wollte und wo bereits ein  Verwandter mit seiner Familie lebte.

Wer aber war Amalies Mutter? Den bisher einzigen Hinweis gibt der Durchschlag eines kurzen Schreibens vom 22.8.1939, abgelegt in der Akte von Amalie Malka Langsner des einstigen Erziehungs- und Pflegheimes Vorwerk in Lübeck:

„Sehr geehrte Frau Schneid!
Auf Ihre Anfrage teilen wir Ihnen gern mit, dass Ihre Tochter Amalie noch in unserem Heim ist. Der Pass liegt aber bereit, und Sie können damit rechnen, dass Ihr Kind bald in das Heimatland überführt wird. Die Frau Langsner befindet sich unseres Wissens noch in Lübeck. Amalie geht es unverändert, und sie grüßt durch mich ihre Mutter.
Hochachtungsvoll“

Verfasst hatte diese Mitteilung Paul Burwick, der langjährige Leiter der Einrichtung für geistig behinderte Menschen in Lübeck-Vorwerk. Obwohl Amalie Malka Langsner mehr als sechs Jahre dort gelebt hat, enthält ihre Akte außer diesem Schreiben nur eine einzige weitere Mitteilung. Alle sonst üblichen Unterlagen sind nicht mehr vorhanden, so auch nicht die erwähnte Anfrage der Mutter „Frau Schneid“.
Wer war diese Frau? Wo lebte sie? Und warum lebte ihre Tochter nicht mit ihr zusammen?

Baruch Langsner war nach den Angaben seiner Lübecker Meldekarte in erster Ehe mit Golde Ast aus Bozova verheiratet (Jahrgang 1880) gewesen; ihr Sohn Juda Hirsch wurde dort am 5. Januar 1903 geboren, also anderthalb Jahre nach Amalie. Doch schon kurz nach dessen Geburt schloss Langsner in Brzezany am 31.5.1903 seine zweite Ehe mit Laura Feige Liebe Freibig (Jahrgang 1882), die aus dem polnischen Potokzloty stammte.

Laura Langsner war es, die ihrem Mann mit der kleinen Amalie  nach Lübeck folgte, wo dann am 7. Februar 1907 ihre Tochter Sophie Minna geboren wurde. Sie war die „Frau Langsner“, die sich 1939 noch in Lübeck befunden hatte.

Warum hatte Amalies leibliche Mutter das kleine Mädchen dem Vater und dessen Ehefrau mitgegeben? War sie nicht in der Lage, das Kind selbst zu versorgen? War das uneheliche Kind ein zu großes Problem für sie?

Im Gedenkbuch des Bundesarchivs werden vier Menschen mit dem Familiennamen Schneid genannt, darunter Marie Schneid, geborene Beer. Sie wurde am 4.9.1888 in Brody in Galizien geboren und lebte später mit ihrem Ehemann Max Mendel Schneid (Jahrgang 1884 aus Opryszuke in Galizien) in Leipzig, wo am 3.1.1931 ihre Tochter Rosel Regina geboren wurde.

Angenommen, diese Marie Beer wäre die leibliche Mutter von Amalie Malka gewesen, dann wäre sie zum Zeitpunkt der Geburt gerade erst 13 Jahre alt gewesen, Grund genug, die Verantwortung für das Kind dem erwachsenen Vater zu übergeben. Auch Amalies Behinderung könnte eine Rolle gespielt haben, wobei es bislang keinerlei Anhaltspunkte gibt, wann diese bemerkt wurde, wie sie sichtbar wurde und worin sie bestand.

In Lübeck lebte Amalie über lange Jahre (mit einigen Unterbrechungen) in der Familie des Vaters, zunächst in der Hüxstraße 81, dann ab 1913 darauf in der Marlesgrube 52. Spuren ihrer Kindheit und Jugend ließen sich allerdings bisher in den Akten nicht entdecken.  

Langsners gehörten außer dem Haus Marlesgrube 52 neun weitere Grundstücke und Häuser in der Stadt, ein Zeichen, dass die Geschäfte des Kaufmanns erfolgreich gelaufen sein müssen. Gleichzeitig aber geriet Baruch Langsner häufig mit dem Gesetz in Konflikt: Etliche Verurteilungen hauptsächlich wegen Übertretung der Gewerbeordnung, wegen eines Konkursvergehens, aber auch wegen illegaler Wetten und Körperverletzung sowie überhöhter Mieten ließen ein langes Register an Strafen zusammenkommen. Bereits 1912 war eine Ausweisungsverfügung gegen ihn erlassen, die jedoch zurückgezogen wurde. Unter der Voraussetzung "einwandfreien Verhaltens" wurde ihm der weitere Aufenthalt erlaubt. Während des Ersten Weltkriegs war Baruch Langsner zwei Jahre Frontsoldat.

 1925 wurde für die mittlerweile 24 jährige Amalie Malka Langsner eine eigene Meldekarte angelegt, als sie am 25.2.1925 aus Berlin zur Familie in die Marlesgrube zurückkehrte. Eine zweite kurze Reise nach Berlin folgte Ende Juli 1926. Was waren die Anlässe für die Aufenthalte in Berlin? Fanden besondere Untersuchungen in einer Einrichtung für geistig behinderte Menschen statt? 

In der Kultussteuerkartei der Israelitischen Gemeinde in Hamburg findet sich eine Karteikarte von Amalie Langsner, angelegt während eines Aufenthaltes in Hamburg 1932. Außer der Anschrift „Königstraße 221, zweiter Stock“ gibt es den Vermerk „Langenhorn“. So ist anzunehmen, dass Amalie in der Heil- und Pflegeanstalt zu Untersuchungen gewesen ist, vielleicht auch einige Monate dort als Patientin gelebt hat. Aber bei wem hatte sie in der Altonaer Königstraße gewohnt? Die alten Hamburger Adressbücher liefern keinen Anhaltspunkt, es sei denn, ein dort wohnhafter „Obergerichtsvollzieher“ spielte bei ihrem Aufenthalt  eine Rolle. 

Amalie kehrte 1932 wieder zurück in die Familie nach Lübeck. 

Ab dem 18. Januar 1934 war sie dann in der Triftstraße 139/41 gemeldet, also im Erziehungs- und Pflegeheim Vorwerk dauerhaft untergebracht. Hatte sich ihr Zustand verschlechtert, dass sie nicht mehr Zuhause leben konnte? Oder war mit dem Beginn der Naziherrschaft der Druck auf die Familie gewachsen, die geistig behinderte Tochter in eine Anstalt zu geben? 

Als sogenannte „Idiotenanstalt“ war die Vorwerker Einrichtung 1906 vom „Verein zur Fürsorge für Geistesschwache“ gegründet worden, zunächst in der Klosterstraße 10 und ab 1914 außerhalb der Stadt im Ortsteil Vorwerk. Im „Erziehungs- und Pflegeheim für Schwachsinnige“ Vorwerk wurden geistig Behinderte nicht als medizinische Pflegefälle gesehen, sondern ihre Persönlichkeit sollte durch pädagogische Maßnahmen soweit wie möglich entwickelt werden. Einer der Mitbegründer, der Pädagoge Johann C. H. Strakerjahn beschrieb 1902 die Grundgedanken: „Aufgabe der Anstalt ist es, alles, was in dem Kinde noch entwicklungsfähig ist, zu erforschen und soweit als möglich zu fördern und auszubilden; die komplizierten Willens- und Gefühlsregungen zu beaufsichtigen und zu stärken; durch Aneignung einfacher manueller, technischer und praktischer Fertigkeiten den Grundstock für eine spätere nutzbringende Beschäftigung zu legen und dem idiotischen Kinde bestimmte elementare Kenntnisse beizubringen. Gleichzeitig soll das Kind an Ordnung, Reinlichkeit, Anstand, gute Sitte sowie an Selbsthülfe bei seinen persönlichen Bedürfnissen (aus- und ankleiden, essen und trinken, waschen, kämmen und dergl.) gewöhnt werden.“ (zitiert nach Häckermann) 

Um diese Gedanken umzusetzen, wurde als Leiter ein Pädagoge eingesetzt, ab 1913 war es Paul Burwick, der bis 1950 die Arbeit des Heimes Vorwerk entscheidend prägte.

Vor allem lebten Kinder und Jugendliche in Vorwerk; Erwachsene wie Amalie Malka Langsner blieben Ausnahmen.

Unterricht dürfte sie in Vorwerk wohl nicht erhalten haben; sie wird im Sinne Burwicks  als „Stiefkind der Natur“ eine „Beschäftigung in unserem Hause“ erhalten haben, deren Ziel es durchaus war, „ihren Unterhalt im Anstaltsbetrieb zu verdienen“, aber in einer „Umgebung, die ihre Eigenart versteht, die versucht, Sonne in dieses arme und lichtlose Leben zu bringen, die aber in energischer Weise alle Kräfte zu sammeln und anzuspannen weiß, in einer Tätigkeit, die Befriedigung schafft und die ein bescheidenes Auskommen sichert“ (Zitate aus dem Jahresbericht 1917 nach Jenner). 

3 FOTOS: Küche, Wäscherei und Bügelstube im Heim Vorwerk in den 1930er Jahren, Fotoarchiv Museum für Kunst und Kulturgeschichte der Hansestadt Lübeck
3 FOTOS: Küche, Wäscherei und Bügelstube im Heim Vorwerk in den 1930er Jahren, Fotoarchiv Museum für Kunst und Kulturgeschichte der Hansestadt Lübeck

In der Küche oder der Wäscherei, vielleicht auch in der Gärtnerei dürfte Amalie Langsner ihren Arbeitsplatz gehabt haben. Es stellt sich die Frage, wie sie behandelt und untergebracht wurde, denn auch in Vorwerk musste gemäß eines Erlasses des Reichsinnenministers vom 22.6.1938  darauf geachtet werden, jüdische Menschen gesondert unterzubringen, um „Rassenschande“ auszuschließen. 

Anzunehmen ist, dass die junge Frau bald nach ihrer Aufnahme in Vorwerk zwangsweise sterilisiert wurde. Mit dem 1. Januar 1934 war das 1933 erlassene „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ in Kraft getreten. Der Pädagoge Paul Burwick war ein entschiedener Befürworter der Maßnahme. So schrieb er im Jahresbericht 1934:

„In diesem Jahre wirkte sich das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses aus – wir wiesen seit Jahren auf den Segen dieser und die Notwendigkeit dieser zwingenden Maßnahmen hin. Aus dem Vorwerker Heim wurde bei 47 Insassen der Eingriff gemacht.“

(Zitiert nach Jenner). 

Die Namen der Betroffenen lassen sich nicht feststellen, aber die nunmehr 33 jährige Amalie Malka Langsner dürfte mit hoher Wahrscheinlichkeit dabei gewesen sein. Akten des zuständigen „Erbgesundheitsgerichts“, in diesem Fall beim Lübecker Amtsgericht, könnten Auskunft geben, sind jedoch verschlossen. 

Amalies Vater Baruch Langsner war ab 1933 schnell ins Visier der Nationalsozialisten geraten. Sein Geschäft war massiv betroffen von Boykottmaßnahmen, und am 24. Mai 1935 wurde er wegen "Rassenschande" verhaftet, weil er ein Gespräch mit einer jungen Lübeckerin begonnen hatte, die auf der Straße für den Deutschen Caritasverband sammelte. Langsner wurde von SA-Leuten abgeholt, in einen kleinen Handwagen gesetzt und durch die Straßen gezogen, ehe man ihn bei der Geheimen Staatspolizei ablieferte. Über den Prozess Anfang Oktober 1935 berichteten die Zeitungen in ausführlichen Artikeln. 

DOKUMENT: Artikel des Volksboten vom 10. Oktober 1935
DOKUMENT: Artikel des Volksboten vom 10. Oktober 1935

"Der Stürmer" bezeichnete Baruch Langsner als "übel beleumundete Erscheinung"  und das "Scheusal von Lübeck". Er wurde zu vier Monaten Gefängnis verurteilt; gleichzeitig wurde für den polnischen Staatsangehörigen seine sofortige Ausweisung aus Deutschland verfügt und vollzogen. Sein weiterer Aufenthalt in Polen lässt sich über Kattowice und Sosnowiec bis Lodz verfolgen, dort verliert sich die Spur. Er soll am 7.2.1942 ums Leben gekommen sein.

Hat seine Tochter Amalie im Heim Vorwerk von all diesen Geschehnissen erfahren? Wusste sie, dass ihr Vater verurteilt und aus Deutschland ausgewiesen wurde.

Laura Langsner führte nach der Verhaftung ihres Mannes den Altwarenhandel in der Marlesgrube und die Vermietungen fort, so gut es ging. Wir wissen nicht, ob sie weiter Kontakt zu Amalie hatte, sie in Heim Vorwerk besuchte oder zu besonderen Anlässen nach Hause holte.   

Ende Oktober 1938 wurde Amalie Malka Langsner zusammen mit Laura und Sophie Minna Langsner im Rahmen der sogenannten Polenaktion abtransportiert, zusammen mit etwa zwanzig weiteren jüdischen Menschen polnischer Staatsangehörigkeit aus Lübeck. Etwa 15.000 Menschen waren in Deutschland von dieser Abschiebung auf Anordnung des Auswärtigen Amtes betroffen. Von deutscher Seite wurden die Menschen aus den Zügen über die Grenze nach Polen getrieben, dort aber vom Militär zurückgedrängt. Im „Niemandsland“ harrten sie verzweifelt aus, manche wochenlang. Die höchst dramatische Situation an den Grenzübergängen war der Grund, dass der Zug aus Lübeck zunächst in Berlin gestoppt und später zurück nach Lübeck geschickt wurde, so dass die betroffenen Lübecker nach Hause und Amalie Malka Langsner ins Heim Vorwerk zurückkehren konnte.

DOKUMENT: „Polenaktion“ Archiv der Hansestadt Lübeck, Staatliche Polizeiverwaltung 25
DOKUMENT: „Polenaktion“ Archiv der Hansestadt Lübeck, Staatliche Polizeiverwaltung 25

In den kommenden Monaten wurden alle jüdischen Menschen, die polnischer Abstammung waren oder als staatenlos galten, von der Gestapo unter besonderen Druck gesetzt, Deutschland schleunigst zu verlassen.   

Seit Dezember 1938 war Laura Langsner gezwungen worden, ihr Geschäft zu schließen. Überdies wurde von der Devisenstelle ein Lübecker  Rechtsanwalt mit der Verwaltung ihrer Häuser und Grundstücke beauftragt, so dass auch die Mieteinkünfte für den Lebensunterhalt entfielen. 

In diesem Zusammenhang ist das zweite kurze Schreiben aus der Patientenakte Amalie Malka Langsners zu sehen. Hier schrieb Paul Burwick am 18.2.1939:

„Sehr geehrter Herr Piper!

Auf die Anfrage betr. Verpflichtung der Amalie Langsner, Tochter des Langsners, teile ich Ihnen gern mit, dass das monatliche Kostgeld von RM 48,- am Monatsanfang auf unser Bankkonto eingezahlt wurde. Wir bitten, es wie bisher bei Monatsbeginn bei der Spar- und Anleihekasse in Lübeck auf Konto Heim Vorwerk einzuzahlen. Heil Hitler!“

Ernst Ulrich Piper war der von der Devisenstelle zum Verwalter bestellte Rechtsanwalt und übernahm als solcher die Zahlungen für die Unterbringung Amalie Langsners aus dem vom Staat  beschlagnahmten Vermögen ihres Vaters. 

Möglicherweise war er es auch, der Amalies leibliche Mutter „Frau Schneid“ angeschrieben hatte, die daraufhin Paul Burwick um Auskünfte bat.  

Sollte die Annahme richtig sein, dass Marie Schneid, geborene Beer, Amalies leibliche Mutter war, so dürfte ihr Brief an das Heim Vorwerk entweder noch aus Leipzig gekommen sein oder nach ihrer Abschiebung am 5. Juni 1939 schon aus Lemberg in Polen. 

„... Sie können damit rechnen, dass Ihr Kind bald in das Heimatland überführt wird.“ - so schrieb Paul Burwick am 22.8.1939. (Marie Schneids Mann Max Mendel und ihre Tochter Rosel Regina waren während der „Polenaktion“ am 28.10.1938 von Leipzig nach Polen abgeschoben worden.) Auch Laura Langsner könnte sich an Marie Schneid gewandt haben, um in ihrer verzweifelten Situation Hilfe für Amalie zu finden und die Verantwortung abzugeben. Oder Marie Schneid selbst hätte die Initiative ergriffen haben können, um ihre Tochter aus Nazideutschland heraus nach Polen in vermeintliche Sicherheit zu bringen.  

Laura Langsner und ihre Tochter Sophie wurden 1939 wiederholt zur Gestapo vorgeladen und zur Ausreise aus Deutschland gedrängt. In den Vermerken der Polizei heißt es: "Die Tochter Sophie versucht, als Hausangestellte die Einwanderungs-Erlaubnis nach England zu bekommen und denkt daran, sobald sie festen Fuß gefasst hat, ihre Mutter nachkommen zu lassen." (24.6.1939)

Ihre Bemühungen um eine Auswanderung blieben erfolglos. Eine kurze Notiz in einem Brief zweier jüdischer Frauen aus dem Nachbarhaus in der Marlesgrube an Verwandte in Shanghai sagt darüber: "Sofie L. ist mit der Prüfung durchgefallen u. muss 6 Wochen einen Kursus machen. Sie hat es abgelehnt u. wird wohl keine Aussicht auf ein Permit haben." (S. 61, Brief vom 21. August 1939) Demnach hätte Sophie Langsner einen Kurs absolvieren müssen, um das „Permit“ des britischen Arbeitsministeriums, also eine Arbeitserlaubnis für Großbritannien zu bekommen. 

Mit dem Ausbruch des Krieges am 1. September 1939 wurden alle diese Bemühungen hinfällig, und auch die „Überführung“ von Amalie Malka Langsner „in das Heimatland“ fand nicht mehr statt. Sie blieb im Heim Vorwerk bis Anfang September 1940. 

Am 16. September 1940 wurde sie gemeinsam mit weiteren neun Bewohnerinnen und Bewohnern von Heim Vorwerk in die Heilanstalt Hamburg-Langenhorn verlegt, die als Sammelstelle der sogenannten T4-Aktion für Schleswig-Holstein fungierte. „Der Krankenmord an jüdischen Patienten war Teil der von Hitler befohlenen „Aktion T4“, einer Mordaktion, der von Januar 1940 bis August 1941 70.000 Insassen aus Heil- und Pflegeanstalten zum Opfer fielen. Sie wurde als geheime Reichssache von einer Bürozentrale in der Tiergartenstraße 4 in Berlin (daher die Bezeichnung „T4“) aus organisiert. Im März oder April 1940 wurde jedoch in der Berliner „T4“-Zentrale beschlossen, eine Sonderaktion zur Ermordung jüdischer Patienten durchzuführen.“

(Lilienthal) 

Der damalige Leiter Paul Burwick sagte 1959 in einem Entschädigungsverfahren dazu folgendes aus: „Wenige Tage vor dem 15. September 1940 wurde mir vom hiesigen Rathaus aus fernmündlich mitgeteilt, ich hätte die 15 jüdischen Kinder zum Abtransport bereitzuhalten. … Möglicherweise kam der Anruf auch von der Jugendbehörde. Einige Zeit später, wieviele Tage dazwischen lagen, kann ich nicht angeben, wurden die jüdischen Kinder in großen Autobussen abgeholt. Zu dem Transport gehörten Männer und Frauen; sie trugen m.E. Pflegertracht. Jedenfalls waren es keine SS- oder SA-Leute.

Gerüchteweise hörten wir, dass die Kinder nach Langenhorn kommen sollten. … Es fällt mir jetzt ein, dass der Transport durch die sogenannte Transportgesellschaft durchgeführt wurde. Näheres über diese Transportgesellschaft weiß ich nicht....“

Tatsächlich waren es zehn jüdische Menschen, acht Kinder und zwei Erwachsene, dabei Amalie Malka Langsner, die am 16.9.1940 aus dem Heim Vorwerk abtransportiert wurden. Ihre Namen hatte Paul Burwick zuvor nach Berlin gemeldet, nachdem der für die Koordination von Euthanasie-Maßnahmen zuständige Ministerialdirigent Dr. Herbert Linden am 15. April 1940 angeordnet hatte, alle jüdischen Insassen von öffentlichen und privaten Heimen zu erfassen und zu registrieren: „Hierdurch ersuche ich mir als in Frage kommend gemeldeten Anstalten Nachfrage zu halten, wieviel Juden (getrennt nach Männern und Frauen), die an Schwachsinn oder einer Geisteskrankheit leiden, dort untergebracht sind. Das Feststellungsergebnis ist mir binnen 3 Wochen vorzulegen.“

(zitiert nach Jenner)

Eine Erklärung für die Differenz zwischen den von Burwick genannten 15 Kindern und den abtransportierten 10 Menschen lässt sich nicht finden. 

Am 30. August 1940 ordnete ein Erlass vom Reichsinnenmister an, alle jüdischen Behinderten in wenigen öffentlichen Anstalten zu konzentrieren, um sie von dort aus in eine Sammelanstalt zu verlegen. Aus Norddeutschland sollten alle Betroffenen bis zum 18. September 1940 in die Heil- und Pflegeanstalt Langenhorn gebracht werden. „Auf die Innehaltung dieses Termins muß ich besonderen Wert legen, da ein Abtransport verspätet eingelieferter geisteskranker Juden mit großen Mühen und Ausgaben verbunden ist“, so heißt es in diesem Erlass wörtlich. Aus verschiedenen kleinen privaten Einrichtungen in den Kreisen Segeberg, Rendsburg, Plön und Pinneberg sowie den großen Heilanstalten in kirchlicher oder öffentlicher Trägerschaft Rickling, Neustadt, Schleswig-Stadtfeld, Lübeck-Strecknitz und Lübeck-Vorwerk wurden 56 Menschen nach Langenhorn transportiert.

So stieg auch Amalie Langsner am 16. September 1940 in einen der Busse der Gesellschaft für Krankentransporte und wurde in die Heil- und Pflegeanstalt Langenhorn gebracht, wo sie etwa eine Woche blieb.

Paul Burwick konnte sich in seiner Aussage 1959 weiterhin daran erinnern, dass ihn die Mutter zweier Jungen, die ebenfalls am 16. September 1940 nach Langenhorn transportiert worden waren, später aufgesucht und von einem Besuch bei ihren Söhnen in Langenhorn berichtet hatte. Hatte diese Frau Burwicks Hilfe gesucht, um ihre Söhne zu retten?

Mit allen anderen jüdischen Behinderten aus Norddeutschland wurden die zehn „Vorwerker“, darunter Amalie Langsner, am 23. September 1940 wiederum von der „Gemeinnützigen Transportgesellschaft“ nach Brandenburg in das dortige ehemalige Zuchthaus gebracht und nach ihrer Ankunft noch am selben Tag in einer Gaskammer mit Kohlenmonoxyd ermordet. 39 Jahre war Amalie Malka Langsner, als sie auf diese grausame Weise ihr Leben verlor.

Der Aufsicht führende Arzt Dr. Irmfried Eberl notierte am 23. September 1940 in seinem Taschenkalender: „Hamburg-Langenhorn, J.“. Eberl wurde später der erste Kommandant des Vernichtungslagers Treblinka.

Der Reichsvereinigung der Juden in Deutschland, die seit November 1939 alle Kosten von jüdischen Anstaltspatienten zu tragen hatte, war nicht Brandenburg als Ziel des Transportes genannt worden, sondern eine Heilanstalt in Chelm oder Cholm im besetzten Polen. Im Namen dieser nicht existierenden Einrichtung kassierte die Zentrale der Euthanasie weiterhin Pflegegelder, zum Teil noch mehrere Monate. Die Angehörigen und Fürsorgeträger erhielten von dort amtlich ausgestellte Sterbeurkunden mit fiktiven Todesdaten und Todesursachen. 

Anfang Februar 1941 erhielt die Mutter der beiden bereits erwähnten Jungen eine Todesnachricht, also mehr als vier Monate nach ihrer Ermordung. So geht es aus einem Brief der Schwestern Dora und Bertha Lexandrowitz hervor (S. 121, Brief vom 19.II. 1941).  

Auch für Amalie Malka Langsner dürfte zu diesem Zeitpunkt eine Todesnachricht verschickt worden sein. Aber an wen? Und wann stellte der Rechtsanwalt Piper die Zahlung von „Kostgeld“ für Amalie Langsner ein? 

Hatten Laura Langsner und Sophie Minna vom Tode Amalies erfahren, bevor sie selbst am 6. Dezember 1941 nach Riga deportiert wurden? Laura Feige Langsner war zu diesem Zeitpunkt 59, ihre Tochter Sophie Minna 34 Jahre alt. Es ist nicht bekannt, ob sie bereits während der ersten Wintermonate im Lager Jungfernhof ihr Leben verloren, ob sie zu den vielen Opfern der beiden Massenerschießungen im Februar und März 1942 im Bikerniekiwald gehören oder ob sie zunächst, als arbeitsfähig eingestuft, Zwangsarbeit zu leisten hatten und später ermordet wurden. 

Ende Januar 1952 wurde der Lübecker Oberfürsorger i.R. Georg Nupnau zum Nachlasspfleger der Familie Langsner bestellt, galt es doch die Erbansprüche eines Verwandten Baruch Langsners auf die Häuser und Grundstücke zu prüfen. Am 14. März 1952 schreibt er in der „Wiedergutmachungssache Langsner“ an das Lübecker Landgericht:

„Ich habe inzwischen ermittelt, daß noch eine Tochter Amalie Langsner, geboren am 24.11.01 in Brczany/Polen vorhanden gewesen ist. Amalie Langsner war vom 8.1.1934 bis 16.9.1940 im Erziehungs- und Pflegeheim Vorwerk untergebracht. Von dort wurde sie am 16.9.1940 in die Heil- und Pflegeanstalt Hamburg-Langenhorn übergeführt. Auf eine von mir dorthin gerichtete Anfrage nach dem Verbleib derselben wurde mir mitgeteilt, daß Amalie Langsner auf Anordnung des Reichsinnenministers am 23. September 1940 mit einem Sammeltransport weiterverlegt worden ist, vermutlich nach Chelm bei Lublin. Hier fehlt der Nachweis des Todes. Es ist durchaus möglich, daß sie noch lebt. Weitere Ermittlungen schweben.“ Weiter heißt es: „Ich erhielt ein Schreiben des Rechtsanwalts Dr. Sternfeld vom 26.2.1952, von dem ich eine Abschrift anschließe. Darin steht: „Amalie Langsner war körperlich und geistig verkrüppelt.“ Woher weiß man dies heute und weshalb ist von Amalie Langsner vorher nichts bekannt geworden? Wollte man sie verschweigen?“ 

In dieser Mischung von Ignoranz, Pedanterie und Unterstellungen nimmt der Nachlasspfleger seine Aufgabe wahr. Er prüft auch akribisch, welches Gericht für eine Todeserklärung Amalie Malka Langsners zuständig ist, so dass schließlich erst 1956 dem in Israel lebenden Verwandten das Erbe zugesprochen werden kann. 

Verzeichnis der Quellen außerhalb der Standardfachliteratur:

  • Adressbücher und Meldekartei der Hansestadt Lübeck
  • Archiv der Hansestadt Lübeck, Staatliche Polizeiverwaltung 8, 25, 109, 110, 124, 126; NSA XXII, 14c; Personenstandsregister der Israelitischen Gemeinde Band 6; Amtgericht, Erbgesundheitsgericht, Erw. 38/2009, 1-7 
  • Bundesarchiv: Gedenkbuch, Opfer der Verfolgung der Juden unter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft in Deutschland 1933-1945, www.bundesarchiv.de/gedenkbuch
  • Auf dieser Internetseite ebenfalls zu finden ist:
    Harald Jenner: Quellen zur Geschichte der „Euthanasie“-Verbrechen von 1939-1945 in deutschen und österreicherischen Archiven. Ein Inventar 
  • Datenpool JSHD der Forschungsstelle “Juden in Schleswig-Holstein” an der Universität Flensburg
  • Deutsche Gesellschaft für Psychatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (Hrsg.): „Erfasst, verfolgt, vernichtet“. Menschen mit Behinderungen oder mit Nervenkrankheiten in der Nazi-Zeit, Begleitheft in einfacher Sprache zur gleichnamigen Ausstellung,Berlin 2014
  • Herbert Diercks: „Euthanasie“. Die Morde an Menschen mit Behinderungen und psychischen Erkrankungen in Hamburg im Nationalsozialismus, Katalog zur gleichnamigen Ausstellung der KZ-Gedenkstätte Neuengamme, Hamburg 2014
  • Peter Guttkuhn: Kleine deutsch-jüdische Geschichte in Lübeck, Von den Anfängen bis zur Gegenwart, Lübeck 2004
  • Ursula Häckermann: Biographischer Abriss Hanne-Lore Gerstle 1924-1940, unveröffentlichtes Manuskript, Lübeck 2013 
  • Hamburger Adressbücher, Internetseite der Staats- und Universitätsbibliothek der Freien und Hansestadt Hamburg 
  • "Hoffentlich klappt alles zum Guten...", Die Briefe der jüdischen Schwestern Bertha und Dora Lexandrowitz, bearbeitet und kommentiert von Heidemarie Kugler-Weiemann und Hella Peperkorn, Neumünster 2000 
  • Harald Jenner: Das Kinder- und Pflegeheim Vorwerk in Lübeck in der NS-Zeit, in: Theodor Strohm / Jörg Thierfelder (Hrsg.): Diakonie im Dritten Reich, Neuere Ergebnisse zeitgeschichtlicher Forschung, Heidelberg 1990, Seite 169-204 
  • Landesarchiv Schleswig-Holstein: Entschädigungsakten, Abt. 352 Kiel, 6312 und 8470, Abt. 510, 5115, 8720 und 8722, außerdem: Entschädigungsakten Daicz, Abt. 761, 17959, 8146, 8147, 8148
  • Astrid Ley / Annette Hinz-Wessels (Hrsg.): Die Euthanasie-Anstalt Brandenburg an der Havel, Morde an Kranken und Behinderten im Nationalsozialismus, Schriftenreihe der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten, Band 34, Berlin 2012
  • Georg Lilienthal: Jüdische Patienten als Opfer der NS-“Euthanasie“-Verbrechen, in: Medaon, Magazin für Jüdisches Leben in Forschung und Bildung, Nr. 5, 2009 http://www.medaon.de 
  • Lübecker Volksbote 1935  
  • Memorbuch zum Gedenken an die jüdischen, in der Schoa umgekommenen Schleswig-Holsteiner und Schleswig-Holsteinerinnen, hrsg. v. Miriam Gillis-Carlebach, Hamburg 1996
  • Sabine Reh: Von der “Idioten-Anstalt” zu den Vorwerker Heimen, Lübeck 1997
  • Staatsarchiv der Freien und Hansestadt Hamburg: Kultussteuerkartei der jüdischen Gemeinde 
  • Vorwerker Diakonie Lübeck, Patientenakte Amalie Malka Langsner und weitere Unterlagen
  • Yad Vashem, The Central Database of Shoah Victims’ Names Zeitzeugengespräche

Heidemarie Kugler-Weiemann, 2014 (Ergänzungen/Korrekturen: 14.02.2016)