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Pleskowstraße 1 - Johanna Broell

In der Pleskowstraße 1 lebte Johanna Broell vom Oktober 1935 bis zum Juni 1942, und zwar in der Wohnung im ersten Stock. Das Erdgeschoss wurde von ihrer Tochter Elisabeth Seidel und deren Familie bewohnt.

Johanna Broell, geborene Bendix, kam am 5. Januar 1869 in Zülpich in der Eifel zur Welt, als Tochter des jüdischen Ehepaares Isaac Pius Bendix und Teresia Bendix, geborene Freudenreich.

1888 heiratete Johanna den in Köln lebenden Johann Ludwig Broell. Der Eheschließung am 1. September auf dem Kölner Standesamt folgte eine kirchliche Trauung - fünf Jahre später in der evangelischen Kirche Kölns.  Johann Ludwig Broell war kein Jude; er war 1861 in Kempten geboren und evangelisch. Das Ehepaar bekam fünf Kinder, die drei Töchter Elisabeth, Dorothea und Therese sowie die Söhne Walter und Franz.

Im April 1934 zog die 65 jährige Witwe Johanna Broell nach Lübeck, von Hamburg aus, zusammen mit ihrer Tochter Therese (Jahrgang 1902). In Lübeck waren bereits zwei ihrer Kinder ansässig, Elisabeth und Franz. Ihre dritte Tochter Dorothea Dekker lebte in Holland, ebenso ihr Sohn Walter, der am 6.6.1925 in Rotterdam seine Hochzeit beging mit Grada Nicolina Adriana Johanna de Hosson.

Möglicherweise hatte Johanna Broell mit ihrer Familie zeitweise in Holland gelebt, denn ihr Sohn Franz Broell war 1909 in Rotterdam geboren. Er war von Beruf Ingenieur und seit 1931 in Lübeck gemeldet.1933 folgte ihm seine Frau, die gleichaltrige Meta Ida, geborene Markurantz aus Hamburg, und am 24. August 1934 kam ihre Tochter Elly Susanne in Lübeck zur Welt. Die junge Familie lebte zu diesem Zeitpunkt in der Geniner Straße 35a, zusammen mit Johanna und Therese Broell.

Wie seine Schwester Elisabeth war auch Franz Broell in der Fabrik von Albert Julius Asch in der Moislinger Allee tätig, der Norddeutschen Bürstenindustrie Albert Asch & Co, Elisabeth Seidel als Kontoristin. Therese Broell gibt bei der Ankunft in Lübeck als Beruf "Haustochter" an.

1935 zog Franz Broell mit seiner Frau und Tochter um in die Ratzeburger Allee 55a, doch nur kurze Zeit darauf verstarb seine junge Frau. Der Totenschein vom 29.11.1935 nennt als Todesursache "Krebs der rechten Ohrspeicheldrüse und Halsdrüsen". In diesen Monaten wohnte Therese Broell bei ihrem Bruder, sicher um ihm in dieser schweren Situation zur Seite zu stehen und sich um das kleine Kind zu kümmern.

Die Mutter war inzwischen in die Pleskowstraße 1 gezogen, wo Elisabeth Seidel ihren Wohnsitz hatte gemeinsam mit Ludwig Reinhard und ihrer Tochter Johanna. Diese war 1921 geboren und besuchte die Ernestinenschule, zusammen mit ihrer besten Freundin Maria. Da Johanna wegen ihrer jüdischen Abstammung nicht in den BDM durfte, trat auch ihre Freundin aus Solidarität nicht ein, trotz starken Drängens der Lehrerin. Johanna Seidel soll nach der Erinnerung ihrer Freundin später Lübeck verlassen haben und nach Berlin gegangen sein.

Therese und Franz Broell waren in den Jahren 1936/37 ebenfalls in der Pleskowstraße 1 gemeldet, allerdings ohne die kleine Elly Susanne, die in Bad Schwartau untergebracht wurde. Am 26. Oktober 1937 heiratete Franz Broell ein zweites Mal, die 1907 in Pirmasens geborene Bertha Schuster. Sie zogen in die Katharinenstraße 23a, und nun lebte auch die kleine Tochter wieder bei ihnen. Am 1.7. 1939 meldete sich die dreiköpfige Familie aus Lübeck ab nach Remscheid.

Johanna Broell aber blieb bei ihren Töchtern Therese und Elisabeth und deren Familie in der Pleskowstraße 1 wohnen bis zum Zeitpunkt ihrer Deportation.

Im Sommer 1942 erhielt sie den „Evakuierungsbescheid“. Offiziell war die Rede von einer „Wohnsitzverlegung“ und Unterbringung in einem „Altersheim in Böhmen“, und möglicherweise musste Johanna Broell wie viele andere für diese „Heimunterbringung“ Geld im voraus zahlen. 

Am 19. Juli 1942 wurde  die 73 Jährige mit etwa zwanzig anderen, zumeist ebenfalls älteren Menschen aus Lübeck nach Theresienstadt deportiert. 

Vom Beginn des Transports gibt es ein ergreifendes Dokument, eine Postkarte, die den Angehörigen einer anderen Betroffenen einige Tage nach dem Abtransport von einer Frau Hemmerdinger mit folgendem Wortlaut geschickt wurde: „Sie werden sich wundern, von einer Fremden Post zu bekommen. Ich bin die Nichte von Frau Mansbacher und bin mit Ihrer Mutter zusammen im Abteil bis Hamburg gefahren. Da möchte ich Ihnen gern erzählen, dass die Reise bis Hamburg besonders gut verlaufen ist. Ihre Mutter war, wie alle andern Damen, recht guter Stimmung. Sie fühlte sich sofort heimisch in dem Kreis von Frau Bröll, Frau Ohmann und meiner Großmutter Frau Falk. Die Damen unterhielten sich gleich von ihren Kindern und Enkeln und zeigten sich Bilder und machten es sich richtig bequem im Zug. Ich kann Ihnen nur sagen, dass ich gewünscht hätte, dass Sie alle dabei gewesen wären und gesehen hätten, wie guten Mutes alle waren. Und ich hoffe, dass dies ein guter Beginn für die ganze Zeit war. Sollten Sie einmal etwas von dort hören, so wäre ich Ihnen sehr dankbar, wenn Sie mir davon Mitteilung machen würden.“ 

 

 

DOKUMENT: Postkarte vom 23.7.1942, Familienbesitz Dieber
DOKUMENT: Postkarte vom 23.7.1942, Familienbesitz Dieber

Geschrieben hatte diese Zeilen die 1911 in Berlin geborene Theresa Hemmerdinger, die sich auf Gut Skaby bei Berlin auf eine Auswanderung nach Palästina vorbereitete und nach Lübeck gekommen war, um Abschied von Großmutter, Tante und einer weiteren Verwandten zu nehmen. In der Familie der ebenfalls aus Lübeck nach Theresienstadt deportierten Frieda Dieber wurde diese Karte ebenso sorgsam verwahrt wie eine Reihe von kurzen handschriftlichen Mitteilungen aus dem Ghetto Theresienstadt mit Aussagen wie: „Mir geht es gut.“ und „Es ist schön hier.“ oder „Ich bin in einem Altersheim, habe es sehr gut getroffen.“ 

Die Wirklichkeit sah anders aus. „Es waren vor allem alte Menschen, die in diesen Monaten aus Deutschland nach Theresienstadt kamen. Mehr als die Hälfte war über 65 Jahre alt. Sie kamen in plombierten Waggons auf dem Bahnhof in Bohušovice an, waren bis zu 20 Stunden unterwegs gewesen und schleppten sich mit ihrem 50 Kg Gepäck mit letzter Kraft die 4 Km lange Straße entlang nach Theresienstadt. Beim Öffnen der Waggons fielen viele schon halb ohnmächtig heraus, Tote und Sterbende blieben in den Waggons zurück. Ein Transport kam nach dem anderen. Niemand wußte, wo all diese Menschen untergebracht werden sollten, denn das Ghetto war völlig überfüllt, der Ältestenrat und die Hilfsdienste völlig überfordert. Die Lebensmittelrationen nahmen stetig ab und die Sterberate stieg. Im Juni 1942 waren alle Kasernen überfüllt, im Juli reichten die vorhandenen Gebäude nicht mehr aus. Die Menschen wurden in unterirdischen Kasematten, auf Höfen, Hauseingängen und auf Dachböden untergebracht.“ (www.ghetto-theresienstadt/info/Das Ghetto der Alten) 

Der Transport VI/2 aus Hamburg kam am 20.7. 1942 in Theresienstadt an. Johanna Broells Todesdatum ist der 11.12.1943. Dass sie über ein Jahr im Ghetto Theresienstadt überleben konnte, wird nur dadurch möglich gewesen sein, dass ihre Kinder regelmäßig Pakete mit Lebensmitteln geschickt haben. Eine „Todesfallbenachrichtigung“ gibt es von ihr anders als in anderen Fällen nicht.  

Ihre Kinder blieben als "jüdische Mischlinge 1. Grades" zwar von Deportation und Ermordung, nicht aber von Entrechtung und Repressalien verschont. Gewiss haben sie alles versucht, um ihre Mutter vor dem grausamen Schicksal der Deportation zu bewahren.

Verzeichnis der Quellen außerhalb der Standardfachliteratur:

Verzeichnis der Quellen außerhalb der Standardfachliteratur:

 

  • Adressbücher und Melderegister der Hansestadt Lübeck
  • Archiv der Hansestadt Lübeck, Staatliche Polizeiverwaltung 109, 110
  • Datenpool JSHD der Forschungsstelle “Juden in Schleswig-Holstein” an der Universität Flensburg
  • Information von Marianne Dekker am 6.1.2014
  • Memorbuch zum Gedenken an die jüdischen, in der Schoa umgekommenen Schleswig-Holsteiner und Schleswig-Holsteinerinnen, hrsg. V. Miriam Gillis-Carlebach, Hamburg 1996
  • Ina Schmidt, Widerstand - Protest - Verweigerung von Lübeckerinnen in der Zeit des Nationalsozialismus 1933-1945, Lübeck 1995, S.46
  • Albrecht Schreiber, Zwischen Davidstern und Doppeladler, Illustrierte Chronik der Juden in Moisling und Lübeck, Lübeck 1992
  • Theresienstädter Gedenkbuch, Prag 1995, Datenbank auf der Website www.holocaust.cz
  • www.ghetto-theresienstadt/info
  • Yad Vashem, The Central Database of Shoah Victims’ Names
  • Zeitzeugengespräche

Heidemarie Kugler-Weiemann, 2009 und 2014