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Mühlenstraße 21 - Repi Betty Redner und Tochter Sali Selma

Mühlenstraße 21 heute, Foto: Heidemarie Kugler-Weiemann, 2009
Mühlenstraße 21 heute, Foto: Heidemarie Kugler-Weiemann, 2009

In der Mühlenstraße 21, dem großen Eckhaus zur Königstraße, wohnte von März 1933 bis Oktober 1938 Repi Betty Redner mit ihrer ältesten Tochter Sali Selma Redner. Mit der Vermietung von vier bis fünf Pensionszimmern in ihrer Wohnung im ersten Stock versuchte sie ihren Lebensunterhalt zu sichern.

Repi Betty Redner, geborene Rosenheck wurde am 24.7.1860 in Peczenizyn in Galizien geboren, ihr Ehemann Juda Redner am 12.12.1857 in Kolomea. Dort kamen sieben ihrer neun Kinder zur Welt.

Sali Selma wurde als erstes Kind des Paares am 14.4.1882 geboren, ihre Schwester Hedi Anna Judie 1883. Es folgten die Brüder Wilhelm (Jahrgang 1884), David (1887), Moses (1889), Isaak (1892) und Adolf im April 1893. Danach verließ die Familie Galizien und zog nach Deutschland. Ihr Sohn Hermann kam in Elmenhorst am 21.12.1898 zur Welt und die jüngste Tochter Bertha schließlich am 13.8.1902 in Lübeck, wo die Familie seit dem Jahr 1900 lebte. Zum Zeitpunkt ihrer Geburt war die älteste Schwester Sali Selma bereits zwanzig Jahre alt. Sie dürfte ebenso wie die Schwester Hedi Anna Judie ihren Schulbesuch bereits in Galizien abgeschlossen haben. Hedi Anna Judie arbeitete gleich nach Ankunft der Familie in Deutschland als Dienstmädchen, in Lübeck, Travemünde, Hamburg. Am 4.9.1907 heiratete sie den Kaufmann Jonas Schweiger und zog zu ihm nach Hagen. Sali Selma blieb unverheiratet. Sie arbeitete mehrere Jahre als Köchin in Hamburg, Hannover, Halberstadt und anderen Orten. Später lebte sie bei den Eltern bzw. mit der verwitweten Mutter zusammen und arbeitete mit in der Pension.

Anfangs wechselten die Anschriften der Familie Redner in der Vorstadt St. Lorenz sehr schnell. Von der Waisenhofstraße 17 zog die Familie 1902 in die Füchtingstraße 27, dann in die Gloxinstraße 7, die Segebergstraße 13 und die Warendorpstraße 17, doch 1908 fanden Redners in der Beckergrube 18 ihr Zuhause in einer Wohnung im zweiten Stock. Dort lebten sie bis 1933. Juda Redner verdiente sein Geld als Reisender, als Bürstenbinder und schließlich als Kaufmann. Er verstarb am 14. April 1920 im Alter von 63 Jahren, knapp ein Jahr nach dem Tod seines jüngsten Sohnes Hermann im Mai 1919.

Das Adressbuch von 1926 verzeichnet folgenden Eintrag:

Redner, Wwe Juda, Beckergrube 18, F 3422. Dass ein Fernsprechanschluss vorhanden war, könnte auf einen gewissen Wohlstand der Familie deuten. Die Kinder waren zu diesem Zeitpunkt bereits erwachsen, hatten Lübeck größtenteils früh verlassen und kamen nur auf Besuche zur Mutter und den Geschwistern. Wilhelm wurde Commis und ging 1905 zunächst nach Hannover, dann nach Bremen. David lernte Bürstenmacher, versuchte aber später als Schiffsarbeiter in Hamburg und Wismar sein Glück. Nach weiteren Aufenthalten in Hannover, Bonn und Berlin verließ er Deutschland und zog 1909 nach Wien. Dorthin folgte ihm sein Bruder Isaak im August 1914. Möglicherweise wurden die jungen Männer als österreichische Staatsbürger dort zum Militär eingezogen.

Moses Redner blieb zunächst in Lübeck, er lernte Küfer, betrieb ein kleines Konfektionsgeschäft, später den An- und Verkauf von Gold und Silber; auch als Auktionator war er tätig. Doch im November 1923 zog auch er fort, nach Breslau.

Sein Bruder Adolf hatte sich 1921 nach Dortmund abgemeldet, lebte aber in den dreißiger Jahren wieder in Lübeck und war als Vertreter im Adressbuch in der Königstraße 45 im zweiten Stock verzeichnet.

Nach der Erinnerung von Frau Charlotte Harnack war Repi Betty Redner eine sehr fromme Jüdin und trug stets den "Scheitl", die Perücke der verheirateten Frauen. Gemeinsam mit ihrer Großmutter Regina Heinemann, geborene Taub, war sie oft zu Besuch bei Frau Redner. Die beiden Frauen waren gut befreundet. Von den Kindern der Familie Redner kann sie sich an Sali Selma, an Bertha und zwei Männer erinnern, die mit Wäsche und Stoffen handelten.

Im April 1937 verließ die jüngste Tochter Bertha Lübeck und zog nach Hamburg.

Im Oktober 1938 wurden Frau Redner und ihre Tochter Sali Selma gezwungen, ihre Wohnung aufzugeben und mussten im Hause der jüdischen Familie Langsner in der Marlesgrube 52 eine Wohnung beziehen. Die Zimmervermietung war ihnen möglicherweise schon zuvor erschwert oder ganz verboten worden.

Eine geplante Abschiebung von Juden mit polnischer Staatsangehörigkeit im Oktober 1938 brachte auch die Redners ins Blickfeld der Gestapo. Ihre Namen standen auf der Liste, allerdings mit dem Vermerk "Staatsbürgerschaft ungeklärt". Daher wurden sie zwar nicht auf den Transport nach Polen geschickt, der in Berlin gestoppt und dann zurück nach Lübeck geschickt wurde, wurden aber wie alle anderen Betroffenen in den folgenden Monaten massiv unter Druck gesetzt, wiederholt vorgeladen und unter der Androhung, in ein Konzentrationslager eingewiesen zu werden, zur schnellen Ausreise aus Deutschland gedrängt. In einem Schreiben der Israelitischen Gemeinde an den Polizeipräsidenten vom 24. Juni 1939 heißt es: "... Die Tochter hat schon seit langem versucht, ihre Auswanderung durchzuführen, doch ist es hier bei dem hohen Alter der auf ihre Betreuung angewiesenen Mutter ihr nicht möglich, allein auszuwandern, ohne nicht auch ihre Mutter mitzunehmen..." Zwei Monate später vermerkt die Polizei nach einer neuerlichen Überprüfung auf ihrer Liste unter den Nummern 23 und 24: "Sali Redner bemüht sich um Auswanderung. Betty Redner ist 79 Jahre alt und pflegebedürftig."

Am 6. Dezember 1941 wurden die beiden Frauen nach Riga deportiert, Repi Betty Redner war 81 Jahre alt, ihre Tochter Sali Selma 59 Jahre. Es ist nicht bekannt, wie sie ihr Leben verloren, doch ist anzunehmen, dass sie zu den Opfern der Massenerschießungen im Februar oder März 1942 im Bikerniekiwald gehören, wenn sie nicht bereits vorher durch Hunger und Kälte im Lager Jungfernhof umkamen.

Laut Angaben von  Yad Vashem wurden auch der älteste Sohn Wilhelm Redner und die jüngste Tochter Bertha Opfer der Schoa. Bertha wurde von Hamburg aus am 25.10.1941 nach Lodz deportiert und kam dort ums Leben.

Verzeichnis der Quellen außerhalb der Standardfachliteratur:

  • Adressbücher und Meldekartei der Hansestadt Lübeck
  • Archiv der Hansestadt Lübeck, Staatliche Polizeiverwaltung 25, 109, 110
  • Buch der Erinnerung, Die ins Baltikum deportierten deutschen, österreichischen und tschechoslowakischen Juden, bearbeitet von Wolfgang Scheffler und Diana Schulle, München 2003
  • Datenpool JSHD der Forschungsstelle “Juden in Schleswig-Holstein” an der Universität Flensburg
  • Memorbuch zum Gedenken an die jüdischen, in der Schoa umgekommenen Schleswig-Holsteiner und Schleswig-Holsteinerinnen, hrsg. V. Miriam Gillis-Carlebach, Hamburg 1996
  • Albrecht Schreiber, Zwischen Davidstern und Doppeladler, Illustrierte Chronik der Juden in Moisling und Lübeck, Lübeck 1992
  • Yad Vashem, The Central Database of Shoah Victims’ Names
  • Zeitzeugengespräche

Heidemarie Kugler-Weiemann, 2009