Mengstraße 4 - Erich Mühsam
Vor dem Buddenbrookhaus, Mengstraße 4, erinnert ein Stolperstein an Erich Mühsam. Die Erich-Mühsam-Gesellschaft e.V., die dort ihren Sitz hat, ließ diesen Stolperstein bereits am 2.4.2003 von Gunter Demnig anfertigen und verlegen.
Heimat
Die hohen Türme haben mich gegrüßt,
die über meinen Kinderträumen ragten,
und ihre unbewegten Mienen fragten,
wie ich des Lebens wachen Ernst verbüßt.
Des Waldes Blätter haben mir gerauscht,
wo meine Schmerzen erste Reime fanden.
Ich habe ihre Frage wohl verstanden:
Ob ich beglücktes Dichten eingetauscht.
Doch, als ich kam zu meines Meeres Flut,
da stürmten alle Wellen, mich zu grüßen,
und drängten zärtlich sich zu meinen Füßen
und fragten nichts. Da war mir frei und gut.
Aus: Wüste - Krater - Wolken (1914)
Die Familie Mühsam gehörte zur gutbürgerlichen jüdischen Gesellschaft der Stadt. Zum Purimfest der jüdischen Gemeinde im Jahre 1929 wurde das Theaterstück "Die Killeberger" erstmals aufgeführt, die liebevoll - ironische Darstellung einer jüdischen Gemeinde, verfasst von Siegfried Seligmann Mühsam und inszeniert von seiner ältesten Tochter Margarethe Joel, geborene Mühsam (1875 - 1958). Sie war verheiratet mit Dr. Julius Joel, ihr Bruder Hans (1876 - 1957) mit Minna Adler, die jüngste Schwester Charlotte (1881 - 1972) mit dem Rechtsanwalt Dr. Leo Landau. Die drei Geschwister Erich Mühsams konnten Deutschland verlassen und lebten später in Israel.
Erich Mühsam besuchte das Katharineum, wurde aber 1896 von der Schule verwiesen wegen "sozialistischer Umtriebe", nachdem er einen kritischen Artikel über den Direktor der Schule veröffentlicht hatte. Er machte sein Abitur am Gymnasium in Parchim, dann eine Apothekerlehre in der Lübecker Adler-Apotheke und arbeitete anschließend als Apothekergehilfe. Es war maßgeblich sein Verdienst, dass das historische Gebäude der Löwen-Apotheke nicht wie geplant abgerissen wurde.
1899 starb seine Mutter Rosalie, geborene Cohn, und im Jahr darauf verließ Erich Mühsam Lübeck und ging nach Berlin. Er gab den Beruf des Apothekers auf und wurde freier Schriftsteller und politischer Journalist. "Die Bekämpfung des Staates in seinen wesentlichen Erscheinungsformen, Kapitalismus, Imperialismus, Militarismus, Klassenherrschaft, Zweckjustiz und Unterdrückung in jeder Gestalt war und ist der Impuls meines öffentlichen Wirkens." schrieb Erich Mühsam in einem Lebenslauf.
Verhör
Sie heißen? - Erich Mühsam.
Geboren? - Ja.
Wann? meine ich! - 6. April 1878.
Wo? - Berlin.
Religion? - Geht Sie nichts an.
Schreiben Sie MOSAISCH!
Was tun Sie? - Ich dichte.
Waas? - Ich trinke.
Delyriker! - Schreiben Sie DELYRIKER.
- Zum Donnerwetter,
bin ich denn hier in einem Tollhaus?
Allerdings! - Stecken Sie den Delinquenten in die Zwangsjacke.
Erich Mühsam erlebte viele Verhöre in seinem Leben.
1909 wurde er in München verhaftet wegen anarchistischer Agitation; der Prozess endete mit einem Freispruch.
1919 wurde er nach seiner führenden Beteiligung an der Münchner Räterepublik zu 15 Jahren Festungshaft verurteilt, 1924 auf Bewährung entlassen.
Am 28. Februar 1933 wurde Erich Mühsam von der SA in Berlin verhaftet.
Stationen seiner Haft waren das Gefängnis Lehrter Straße, das KZ Sonnenburg, das Gefängnis Plötzensee, das KZ Brandenburg und ab 2. Februar 1934 das KZ Oranienburg. Hier wurde er nach vielen Misshandlungen und Folterungen in der Nacht zum 10. Juli 1934 von der SS ermordet.
Das Gedicht "Der Gefangene" aus dem Jahr 1919 beginnt mit folgender Strophe:
Ich habs mein Lebtag nicht gelernt,
mich fremdem Zwang zu fügen.
Jetzt haben sie mich einkasernt,
von Heim und Weib und Werk entfernt.
Doch ob sie mich erschlügen:
Sich fügen heißt lügen.
Auch die vier weiteren Strophen enden alle mit dieser Zeile: Sich fügen heißt lügen.
1915 hatte Erich Mühsam Kreszentia Elfinger, Zenzl genannt, geheiratet. Sie konnte nach seinem Tod vor den Nazis in die Sowjetunion fliehen, wurde dort jedoch wegen "trotzkistischer Umtriebe" für lange Jahre in Sibirien interniert.
Ich lade Euch zum Requiem
Ich lade euch zum Requiem
vors Ehrenmal der Totenmauer.
Aus Liebe, Schmerz, Empörung, Trauer
wand ich ein Blumendiadem.
Zerpflückt nicht, so Ihr Menschen seid,
den Kranz, den ich gebunden habe,
und denkt daran: am frischen Grabe,
unkritisch, weint das frische Leid.
Das Heut erkennt das Gestern nicht,
trotz Ruhmeskranz und Seelenmessen. -
Wer Zukunft schuf, bleibt unvergessen.
Erst die Geschichte hält Gericht.
Quellen:
- Konrad Dittrich, Kleines Lexikon Lübeck, Hamburg 2000
- Ingaburgh Klatt, "... Dahin wie ein Schatten", Aspekte jüdischen Lebens in Lübeck, Lübeck 1993
- Erich Mühsam, Der Bürgergarten, Zeitgedichte, Berlin und Weimar 1982;
- Fanal, Aufsätze und Gedichte 1905-1932, Berlin 1984
- Zur Psychologie der Erbtante, Satirisches Lesebuch 1900-1933, Berlin 1984
- Rudolf Rocker, Der Leidensweg von Zensl Mühsam, Frankfurt a.M. 1949
- Stadtrundgang auf den Spuren jüdischen Lebens in Lübeck, Faltblatt der Hansestadt Lübeck, Lübeck 2001
- Albrecht Schreiber, Zwischen Davidstern und Doppeladler, Illustrierte Chronik der Juden in Moisling und Lübeck, Lübeck 1992
- Schriften der Erich-Mühsam-Gesellschaft, Heft 23, Lübeck 2004
- Walter Andreas Schwarz, Dieter Süverkrüp, Erich Mühsam: Ich lade Euch zum Requiem, CD und Begleitheft, Lübeck 1995
- www.wikipedia.de, www.muehsam.de, www.anarchie.de, www.erich-muehsam.de, www.erich-muehsam-gesellschaft.de
Heidemarie Kugler-Weiemann, 2008