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Marlesgrube 41 - Familie Morgenstern

Etwa an dieser Stelle befand sich bis 1942 das Haus Marlesgrube 41, Foto: Heidemarie Kugler-Weiemann
Etwa an dieser Stelle befand sich bis 1942 das Haus Marlesgrube 41, Foto: Heidemarie Kugler-Weiemann

In der Marlesgrube 41 lebte von 1915 bis zum Mai 1940 die Familie Morgenstern.

Das Haus wurde 1942 beim Bombenangriff auf Lübeck zerstört. Daher verlegte Gunter Demnig seine Gedenksteine im Eingangsbereich des heutigen Schulgebäudes in der Marlesgrube.

Benzion Morgenstern (* 9. Dezember 1864 in Rypin) und seine Frau Frieda, geborene Mischka waren im Jahre 1900 aus dem polnisch-russischen Rypin (östlich von Thorn gelegen) nach Lübeck gekommen, beide 36 Jahre alt, mit zwei kleinen Kindern. Ihre Tochter Sara war am 4. November 1893 in Rypin geboren, war also sieben Jahre alt, und der Sohn Hermann war vier Jahre alt bei der Ankunft in der neuen Heimat.

Während der ersten Jahre in Lübeck wechselte die Familie mehrfach ihren Wohnsitz, wohnte in der Großen Gröpelgrube, der Stavenstraße, dem Balauerfohr und ab 1914 in der Marlesgrube, zunächst wie bisher zur Miete in der Nummer 28, ab 1915 jedoch im eigenen Haus Nummer 41.

Eintragung der Brandassekuranzkasse für die Marlesgrube 41; Archiv der Hansestadt Lübeck, 32 Brandassekuranzkasse, Häuserregister, St. Marien-Quartier
Eintragung der Brandassekuranzkasse für die Marlesgrube 41; Archiv der Hansestadt Lübeck, 32 Brandassekuranzkasse, Häuserregister, St. Marien-Quartier
Anzeige von Benzion Morgenstern im Lübecker Generalanzeiger vom 15.9.1926
Anzeige von Benzion Morgenstern im Lübecker Generalanzeiger vom 15.9.1926

Die Familie Morgenstern hatte viel Schweres durchzumachen. Nachdem der zweite Sohn Joseph 1901 zur Welt gekommen war, wurde zwei Jahre später Emanuel geboren und starb nach wenigen Tagen. Am 14. Oktober 1904 wurden Rahel und ihre   Zwillingsschwester geboren, die drei Tage nach der Geburt verstarb. Sie hatte noch gar keinen Namen bekommen. Im September 1906 starb der zehnjährige Sohn Hermann durch eine Leberschrumpfung, und schließlich starb im Alter von nur zwei Jahren die im August 1913 geborene kleine Lea. So erlebten nur drei der sieben Kinder den Einzug in das vom Vater erworbene Haus.

Benzion Morgenstern war Altwarenhändler und betrieb das Geschäft im Erdgeschoss seines Hauses.

Joseph Morgenstern konnte nach Abschluss der Schule im Kaufhaus von Noa Honig seine Ausbildung absolvieren und später als Buchhalter arbeiten. Er soll ein sehr schüchterner, introvertierter Mensch gewesen sein. Rahel Morgenstern arbeitete als Kinderfräulein, sowohl in Familien als auch in Kinderheimen, und zwar in Altona, Frankfurt am Main, Mainz, in Wyk auf Föhr und in den dreißiger Jahren während der Sommermonate in Travemünde. Ihre beiden Geschwister Joseph und Sara blieben im Elternhaus wohnen.

Im Januar 1928 verstarb Frieda Morgenstern im Alter von 64 Jahren. Auf dem jüdischen Friedhof in Moisling findet sich ihr Grabstein mit ihrem jüdischen Vornamen Frumet. Sicher wurden auch die so früh verstorbenen Kinder der Familie in Moisling begraben, doch ihre Gräber sind nicht mehr ausfindig zu machen.

Rahel Morgenstern (rechts) mit ihrer Freundin Martha Doum und deren Sohn Adolf Lübeck 1928 (Nachlass Abraham Domb-Dotan, Israel)
Rahel Morgenstern (rechts) mit ihrer Freundin Martha Doum und deren Sohn Adolf Lübeck 1928 (Nachlass Abraham Domb-Dotan, Israel)

1936 zog Rahel Morgenstern nach Hamburg. Die Kultussteuerkartei der jüdischen Gemeinde dort führt ihre Anschriften auf, die gleichzeitig ihre Arbeitsstellen waren: Brahmsallee 15 I bei Levi, Kieler Allee 13 I beim Rabbiner, Klosterallee 22 E bei Magnus und schließlich das Israelitische Krankenhaus in der Eckernförderstr. 4, wo sie als "Kochstütze" arbeitete. Gemeindebeiträge wurden angesichts ihrer geringen Einkünfte nicht von ihr verlangt.

Während des Novemberpogroms 1938 wurde Joseph Morgenstern verhaftet. Vom 15. Dezember 1938 bis zum 10.Januar 1939 war er im Konzentrationslager Sachsenhausen  inhaftiert. Seine Freilassung erfolgte, weil es für ihn eine Schiffspassage nach Shanghai gab, ebenso wie für einige andere jüdische Männer aus Lübeck.

Bericht der Schutzpolizei vom 13. Dezember 1938; Archiv der Hansestadt Lübeck, Staatliche Polizeiverwaltung 126
Bericht der Schutzpolizei vom 13. Dezember 1938; Archiv der Hansestadt Lübeck, Staatliche Polizeiverwaltung 126

Doch nicht nur um Joseph mussten sich Benzion Morgenstern und seine Töchter  Sorgen machen. Ihr Geschäft, dessen Fensterscheiben bei den Ausschreitungen um den 9. November zertrümmert worden waren, wurde im Dezember 1938 auf Grund der staatlichen Maßnahmen zur "Ausschaltung der Juden aus dem deutschen Wirtschaftsleben" geschlossen. Anfang Dezember fand die Polizei bei einer Überprüfung "die Verkaufsstelle noch geöffnet", denn zunächst  hatten Inhaber mit ausländischer Staatsangehörigkeit die Möglichkeit bekommen, noch bis Ende des Monats ihre Geschäfte fortzuführen, aber schon nach einer Woche schuf eine Nachprüfung andere Fakten, wie ein Polizeiprotokoll zeigt.

Aus den Briefen von Bertha und Dora Lexandrowitz, die in der Marlesgrube 50 lebten und an ihre nach Shanghai geflüchteten Verwandten schrieben, ist weiteres über die Familie Morgenstern zu erfahren. Ende Juni 1939 steht in einem Brief:

"Die Polen haben hier eine sehr kurze Frist bekommen u. müssen in einigen Tagen dringend auswandern. Noch ist keine Möglichkeit vorhanden u. die Sorgen u. die Aufregung ist sehr groß."


Am 21. August 1939 heißt es:

"Rahel Morgenstern wartet auch sehr auf das Permit u. Herr M. u. Sara hoffen dann auch dorthin fahren zu können." (S.61)

Mit Permit ist eine Arbeitsgenehmigung für Großbritannien gemeint, unabdingbare Voraussetzung für eine Auswanderung dorthin. Die Karteikarte der Hamburger Kultusbehörde trägt bereits den Vermerk: " Ausgeschieden Febr. 39, Ausland" doch der Kriegsbeginn am 1. September 1939 machte alle Hoffnungen auf eine Flucht nach England zunichte.

Kurz nach Ausbruch des Krieges schrieben die beiden Lübecker Schwestern an ihren Neffen Rolf in Shanghai:

"Könnte Joseph M. nicht Dir u. einigen anderen Kindern etwas Unterricht erteilen?? Er kann es ganz bestimmt u. würde dadurch etwas Geld verdienen können." (S.64)

Am 5. Mai 1940 ist zu lesen:

"Morgenstern ziehen morgen ins Asyl, und zwar bekommen sie unten zwei Zimmer u. Küche in der Wohnung von Buschner." (S.88)

Das Altersheim der jüdischen Gemeinde in der St. Annen-Straße 11 wurde als Asyl bezeichnet. Der bisherige nichtjüdische Kastellan der jüdischen Gemeinde Heinrich Buschner hatte sich über die Zerstörungen in der Synagoge so aufgeregt, dass er eine Rede gegen die Gotteslästerung der Gestapo hielt. Dem Pastor der Aegidienkirche gelang es, ihn aus der Gestapohaft zu befreien und seine Einweisung in die Heilanstalt Strecknitz zu erwirken. Vermutlich war Benzion Morgenstern gezwungen, sein Haus veräußern, um geforderte Abgaben bezahlen zu können, die geplante Auswanderung zu finanzieren und um für den Lebensunterhalt überhaupt noch aufkommen zu können.

Auch in vielen anderen Briefen wurden Grüße von und an Joseph Morgenstern ausgerichtet, und schließlich schrieb Dora Lexandrowitz Anfang Januar 1941 inzwischen aus Hamburg über einen Besuch in Lübeck:

"Ich habe bei Morgenstern wunderbar zu Mittag gegessen fleischding. .... Kommt Joseph zu Euch? Wie geht es ihm?" (S.116)

Benzion Morgenstern und seine beiden Töchter Sara und Rahel wurden am 6. Dezember 1941 nach Riga deportiert. Über die Umstände ihres Todes ist nichts bekannt. Ob sie bereits im Lager Jungfernhof ums Leben kamen, ob sie im Februar und März 1942 im Bikerniekiwald erschossen wurden oder ob Sara und Rahel Morgenstern bei diesen Selektionen als arbeitsfähig eingestuft wurden und in den nächsten Jahren Zwangsarbeit leisten mussten, bis der Vormarsch der Roten Armee dazu führte, dass die dann noch lebenden Deportierten auf Transporte und Fußmärsche Richtung Westen  geschickt wurden, wird sich vermutlich nicht klären lassen.

Zum Zeitpunkt der Deportation war Benzion Morgenstern 76 Jahre alt, Sara 48 und Rahel 37 Jahre alt.

Auf der Rückseite des Fotos aus dem Nachlass von Rosa Korn, geborene Lexandrowitz, Israel steht: "Herr Morgenstern mit seinen beiden Töchtern Sara und Rahel".
Auf der Rückseite des Fotos aus dem Nachlass von Rosa Korn, geborene Lexandrowitz, Israel steht: "Herr Morgenstern mit seinen beiden Töchtern Sara und Rahel".

In Yad Vashem finden sich Gedenkblätter für Benzion, Sara und Rahel Morgenstern, ausgefüllt vom Sohn der Freundin Martha Doum.

Gedenkblatt Yad Vashem
Gedenkblatt Yad Vashem

Joseph Morgenstern überlebte die Kriegsjahre im Ghetto Hongkew von Shanghai und   lebte später in St. Louis in den USA.

Verzeichnis der Quellen außerhalb der Standardfachliteratur:

  • Adressbücher, Meldekartei und Sterberegister der Hansestadt Lübeck
    Archiv der Hansestadt Lübeck, Staatliche Polizeiverwaltung 8, 25, 109, 110, 124, 126, 130 / Brandassekuranzkasse 32, Häuserregister, St. Marien-Quartier
  • Bundesarchiv: Gedenkbuch, Opfer der Verfolgung der Juden unter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft in Deutschland 1933-1945,
    www.bundesarchiv.de/gedenkbuch
  • Datenpool JSHD der Forschungsstelle “Juden in Schleswig-Holstein” an der Universität Flensburg
  • "Hoffentlich klappt alles zum Guten...", Die Briefe der jüdischen Schwestern Bertha und Dora Lexandrowitz, bearbeitet und kommentiert von Heidemarie Kugler-Weiemann und Hella Peperkorn, Neumünster 2000
  • Lübecker Generalanzeiger 1925
  • Memorbuch zum Gedenken an die jüdischen, in der Schoa umgekommenen Schleswig-Holsteiner und Schleswig-Holsteinerinnen, hrsg. v. Miriam Gillis-Carlebach, Hamburg 1996
  • Albrecht Schreiber, Zwischen Davidstern und Doppeladler, Illustrierte Chronik der Juden in Moisling und Lübeck, Lübeck 1992
  • Staatsarchiv der Freien und Hansestadt Hamburg: Kultussteuerkartei der jüdischen Gemeinde
  • Yad Vashem, The Central Database of Shoah Victims’ Names
  • Zeitzeugengespräche

Heidemarie Kugler-Weiemann, 2011