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Hüxstraße 110 - Familie Beutel

In der Hüxstraße 110 wohnte von 1935 bis 1940 die Familie Beutel, ihre Wohnung befand sich im zweiten Stock des Hauses.

Der Händler und spätere Kultusbeamte der jüdischen Gemeinde Rubin Tanchem Beutel kam 1904 nach Lübeck. Er war am 27.1.1877 in Boryslaw in Galizien geboren, seine Frau Frieda Hinda Helene, geborene Schorr, am 22.8.1879 in Letnia in Galizien. Manche Quellen nennen andere Geburtsdaten.

Das Ehepaar hatte zehn Kinder. Die beiden ältesten Söhne waren noch in Letnia / Galizien zur Welt gekommen: Kalman am 16.12.1903, Moses am 15.10.1906. Mit den beiden kleinen Jungen folgte Frieda Beutel ihrem Mann nach Deutschland. Die Familie wohnte in Lübeck zunächst in der St.Annen-Straße 12. Die älteste Tochter Maria Dora wurde am 11.1.1908 in Lübeck geboren. Es folgten die Geburten von Israel am 24.4.1909, Cissy am 20.5.1910, Aron Salomon am 3.8.1912, Abraham Nachum am 18.12.1913, Rebecka Sonja am 26.12.1915, Simon am 7.12.1918 und schließlich Lea am 23.1.1922. Die kleine Lea verstarb im Alter von knapp einem Jahr am 12. Januar 1923.

Zu diesem Zeitpunkt wohnte die Familie bereits in einer etwas geräumigeren Dreizimmerwohnung im Erdgeschoss des Flügelanbaus des Hauses Glockengießerstraße 16. 1933 erfolgte ein Umzug in die Große Burgstraße 20 und zwei Jahre später in die Hüxstraße 110.

Schülerinnen und Schüler der jüdischen Religionsschule Lübeck, 1935
Schülerinnen und Schüler der jüdischen Religionsschule Lübeck, 1935

Die Kinder besuchten die nächstgelegenen Volksschulen der Stadt und machten ihre Ausbildung: Kalman im Handel, Moses als Schneider, Aron Salomon machte eine Lehre als Bau- und Möbeltischler in der Firma von August Mühlke, einem Tischlermeister in der Hundestraße 17. Danach arbeitete er bei Tischlermeister Martin Mars in der Schützenstraße 45a, ging dann vom August 1933 bis zum Juni 1934 nach Frankreich und war anschließend wieder in Lübeck als Tischlergeselle beschäftigt. Israel arbeitete als ungelernter Lagerist in den Rohproduktenhandlungen Meyer & Co sowie später Ruben & Co.

Die drei Töchter waren als Hausangestellte tätig, Cissy seit 1932 in Altona und ab 1933 in Hamburg. Schließlich zog sie im Jahr 1939 nach Berlin, wo ihre ältere Schwester Maria Dora schon seit 1925 lebte. 1935 wanderten Maria Dora und Moses nach Palästina aus, am 28. Januar verließ das Schiff den Hafen von Triest in Richtung Haifa. Rebecka Sonja, die jüngste der drei Schwestern, blieb in Lübeck, wo am 5. Juni 1935 ihre Tochter Rosa geboren wurde. Am 5. März 1937 folgte deren Schwester Simmy. Mit beiden Kindern lebte sie bei den Eltern.

Rebekka Sonja Beutel soll wie auch ihre Schwester Cissy Mitglied im Sozialistischen Jugend-Verband gewesen sein.

Abraham Nachum war geistig behindert und im Heim untergebracht, ab 1924 in Beelitz südlich von Berlin und ab 1931 in Lübeck im Heim Triftstraße 139-41. Am 18. Mai 1937 starb er, er war 24 Jahre alt.

Nur zwei Wochen später, am 30. Mai 1937, verstarb der Vater Rubin Tanchem im Alter von 59 Jahren. Diese Situation hat die ehemalige Nachbarstochter Ellen F. , geborene Meyer, noch sehr genau in Erinnerung. Sie war 1929 geboren und lebte mit den Eltern und dem um ein Jahr jüngeren Bruder in der ersten Etage des Hauses Hüxstraße 110. Ihre Mutter nahm beide Kinder mit zu einem Kondolenzbesuch bei den trauernden Nachbarn. Dort lag der aufgebahrte Tote, der Spiegel war mit einem dunklen Tuch verhängt, die anwesenden Männer trugen ihre Kippa.

Ellen F. erinnert sich vor allem an Rosa, mit der sie oft gespielt hat, deren kleine Schwester, die Großeltern der beiden Mädchen und an zwei jüngere Männer. Beutels lebten sehr zurückgezogen. Ihre Wohnung bestand wie die von Familie Meyer aus vier Zimmern: Die linken Fenster zur Straße gehörten zum Schlafraum, die rechten zum Wohnzimmer. Von den nach hinten liegenden Zimmern hatte eines keine Fenster.

Das Haus Hüxstraße 110 gehörte Noah Honig, der im Erdgeschoss sein Bekleidungsgeschäft betrieb. Ihn hat Frau F. als "sehr, sehr nett" in Erinnerung. Vom Fenster einer Bodenkammer, die ihr und ihrem Bruder als Spielraum diente, konnte sie auf das Dach des flacheren Anbaus des Hauses sehen, auf dem ein Holzhäuschen aufgebaut war, das mit vielen Zweigen zu einer Laubhütte gemacht wurde, in der die Familie Beutel das Laubhüttenfest feierte, alle Männer mit Zöpfen und Kippa.

Mitteilung von Rebekka Beutel an den Lübecker Polizeipräsidenten vom 18.1.1939
Mitteilung von Rebekka Beutel an den Lübecker Polizeipräsidenten vom 18.1.1939

In der Nacht vom  9. auf den 10. November 1938 wurden Aron Salomon und Israel Beutel verhaftet, kamen zunächst für etwa einen Monat in sogenannte Schutzhaft in das Lübecker Gefängnis Lauerhof und Mitte Dezember in das Konzentrationslager Sachsenhausen. Beide wurden am 1. Februar 1939  freigelassen und konnten Ende Februar 1939 nach England flüchten.

Simon Beutel machte nach seiner Schulzeit eine Gärtnerausbildung in den Werkstätten für jüdische Jugendliche in Hamburg. Der Gärtnerische Ausbildungslehrgang unter der leitung von Walter Rosenbaum fand in der Wilhelminenhöhe in Hamburg Blankenese, Rissener Landstraße 127 statt.

In einem Schreiben der Beratungsstelle für Jüdische Wirtschaftshilfe wird Herrn Rosenbaum am 12.11.1939 mitgeteilt, dass "Simon Beutel aus Lübeck anschließend an den Arbeitseinsatz in Neuendorf zur Hachschara" kommen  und deshalb als "aus dem Gärtnerischen Ausbildungslehrgang ausgeschieden" betrachtet werde (Staatsarchiv Hamburg  362-6/10 Talmud Tora).

Der hebräische Begriff Hachschara bedeutet wörtlich "Tauglichmachung". In Neuendorf im Sande in der Nähe von Berlin wurden wie auch in etlichen anderen Einrichtungen zionistischer Organisationen  junge jüdische Menschen auf die Auswanderung und das Leben in Palästina vorbereitet, mit Arbeit in der Landwirtschaft und verschiedensten Kursen. Eine Auswanderung hat sich jedoch für Simon Beutel nicht realisieren lassen.

Im Februar 1940 musste die Familie aus ihrer Wohnung in der Hüxstraße 110 ausziehen, ein erzwungener Wohnungswechsel im Zuge der Arisierung des Hauses. Für einige Monate fand Frieda Beutel mit ihrer Tochter und den beiden Enkelkindern Unterschlupf in einem Hinterzimmer der Wohnung einer anderen jüdischen Familie in der Königstraße 116, dann für wenige Wochen im "Asyl" der jüdischen Gemeinde in der St. Annen- Straße 11 und schließlich in zwei Räumen im Flügel der Marlesgrube 52, dem Haus der jüdischen Familie Langsner. Ein damaliger Steuerobersekretär machte in einem Rückerstattungsverfahren im Jahre 1962 u.a. folgende Aussage:

"Der Hausrat der Frau Beutel ist seinerzeit in meiner Gegenwart von dem Auktionator Koch in Lübeck versteigert worden. Der Versteigerungserlös hat nach meiner Erinnerung etwa 450,- RM betragen. Zum Teil mußte der Hausrat ohne Entgelt weggegeben werden, weil er keine Versteigerungserlöse erbracht hätte. Die Möbel waren zum Teil unverwertbar. ... Die Möbel sind seinerzeit aus der Wohnung Hüxstraße 110 abgeholt worden..."

(Landesarchiv Schleswig, Abt. 352 Kiel, 8888)

In der verzweifelten Situation der Familie schaltete sich die Reichsvereinigung der Juden in Deutschland ein und bemühte sich in einem Schreiben vom 25. Februar 1940 um eine Zuzugsgenehmigung nach Hamburg für Rosa und Simmy, damit sie im jüdischen Mädchenwaisenhaus Paulinenstift aufgenommen werden konnten, "da ein Milieuwechsel dringend erforderlich ist". Tatsächlich wurde Rosa im August 1941 in die erste Klasse der Jüdischen Volksschule in der Carolinenstraße eingeschult. Ihre Klassenlehrerin dort war Rebecca Rothschild (Staatsarchiv Hamburg  362-6/10 Talmud Tora). Rosa dürfte also auch in dieser Zeit im Paulinenstift untergebracht gewesen sein. Ob auch ihre Schwester dort aufgenommen wurde, lässt sich nur vermuten.

Am 6. Dezember 1941 wurde Frieda Hinda Helene Beutel im Alter von 61 Jahren nach Riga deportiert, mit ihrem Schwager Isaak Beutel, einem Bruder ihres verstorbenen Mannes, mit ihrem 23 jährigen Sohn Simon, ihrer 26 jährigen Tochter Rebekka Sonja sowie deren kleinen Töchtern, ihren Enkelkindern: Rosa war gerade 6 Jahre alt, Simmy ganze 4 Jahre alt. Auch Kalman Beutel, der älteste Sohn, war dabei. Alle kamen in Riga ums Leben. Ob sie bereits in den ersten Wintermonaten im Lager Jungfernhof durch Hunger und Kälte starben oder ob sie zu den Opfern der beiden Massenerschießungen im Februar und März 1942 im Bikerniekiwald von Riga gehören, ist nicht bekannt.

Cissy Beutel wurde von Berlin aus mit ihrer dreijährigen Tochter im Dezember 1942 nach Auschwitz deportiert und dort ermordet.

Verzeichnis der Quellen außerhalb der Standardfachliteratur:

  • Adressbücher und Meldekartei der Hansestadt Lübeck
  • Archiv der Hansestadt Lübeck, Staatliche Polizeiverwaltung 109, 110, 124, 126
  • Schul- und Kultusverwaltung 375
  • Buch der Erinnerung, Die ins Baltikum deportierten deutschen, österreichischen und tschechoslowakischen Juden, bearbeitet von Wolfgang Scheffler und Diana Schulle, München 2003
  • Datenpool JSHD der Forschungsstelle "Juden in Schleswig-Holstein" an der Universität Flensburg
  • Landesarchiv Schleswig, Abt. 352 Kiel, 8888, 8889 und Abt. 761, 17406
  • Memorbuch zum Gedenken an die jüdischen, in der Schoa umgekommenen Schleswig-Holsteiner und Schleswig-Holsteinerinnen, hrsg. V. Miriam Gillis-Carlebach, Hamburg 1996
  • Andreas Paetz und Karin Weiss (Hrsg.), "Hachschara", Die Vorbereitung junger Juden auf die Auswanderung nach Palästina, Potsdam 1999
  • Albrecht Schreiber, Zwischen Davidstern und Doppeladler, Illustrierte Chronik der Juden in Moisling und Lübeck, Lübeck 1992
  • Staatsarchiv Hamburg  362-6/10 Talmud Tora
  • Yad Vashem, The Central Database of Shoah Victims Names
  • Zeitzeugengespräche

Heidemarie Kugler-Weiemann, 2008