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Holstenstraße 17 - Lina Kesten und Familie

Von April 1909 bis zum Dezember 1939 wohnte in der Holstenstraße 17 die Familie Kesten. Oben im dritten Stock befand sich ihre Wohnung und das Kreditbüro, mit dem der Kaufmann Heinrich Kesten den Lebensunterhalt seiner Familie verdiente. Das Adressbuch von 1913 spricht von einem Möbelabzahlungsgeschäft, 1926 wird es als Möbel- und Warenkreditgeschäft bezeichnet.

Holstenstraße 17 - Foto des alten Gebäudes (Jahr unbekannt) [1]
Holstenstraße 17 - Foto des alten Gebäudes (Jahr unbekannt) [1]

In Kolomea in Galizien war Heinrich Kesten, mit jüdischem Vornamen Pinkas Hersch, 1871 geboren. 1904 kam er mit seiner ersten Ehefrau Dirsin, geborene Elster (Jahrgang 1873) und dem sechsjährigen Sohn David Abraham nach Lübeck. Zuerst wohnten sie in der Glockengießerstraße, später in der Johannisstraße.

1907 kam die Tochter Amalie zur Welt, ihr folgten 1908 Dora Fanny und schließlich 1911 Emanuel. Zu diesem Zeitpunkt war die Familie bereits in der Holstenstraße 17 ansässig.
Während des 1. Weltkriegs wurde Heinrich Kesten als österreichischer Staatsbürger zum österreichischen Heer eingezogen. Nach dem frühen Tod seiner Frau Dirsin Ende Januar 1916 wurde seiner Bitte um Frontverschonung entsprochen, und er konnte nach Lübeck zurückkommen und sich um seine Kinder kümmern. Der ältere Sohn David Abraham wurde 1916 eingebürgert und meldete sich freiwillig als Soldat für den 1. Weltkrieg. Als Kavallerist an der Westfront wurde er für seine Verdienste mit dem Eisernen Kreuz ausgezeichnet.

1918 heiratete Heinrich Kesten erneut. Seine zweite Frau Lina Hamburger war am 8.7.1879 in Seligenstadt geboren, zum Zeitpunkt der Eheschließung also 39 Jahre alt. Ihre Familie war seit langem in Deutschland ansässig; ihr Vater war viele Jahre lang Lehrer in Seligenstadt.

Im Juni 1921 verließ der älteste Sohn David Abraham das Elternhaus in Lübeck und zog nach Kiel, wo er 1923 in der Brunswiker Straße 10 eine Weiß-, Woll- und Kurzwarenhandlung betrieb. Über sein weiteres Schicksal ist bisher nichts bekannt.

Seine Schwester Dora Fanny ging 1931 nach Frankfurt; auch über sie gibt es keinerlei weitere Informationen. Im September 1932 verließ auch Emanuel das Elternhaus und zog nach Berlin. Über ihn konnte bislang nur ermittelt werden, dass er sich im Juli 1935 "auf dem Weg nach Palästina" befunden haben soll.

Amalie arbeitete als Kontoristin u.a. in Hamburg und heiratete im Februar 1931 Bruno Blume, der seit 1927 als Geschäftsführer im Büro von Heinrich Kesten beschäftigt war. Sie wohnten zunächst in Lübeck in der Holstenstraße 8-10, zogen dann aber Anfang 1934 nach Düsseldorf, den Geburtsort von Bruno Blume.

Einige Jahre lebten Heinrich und Lina Kesten nun allein in der Holstenstraße 17.

Im Jahr 1935 traf die beiden ein schwerer Schlag: Heinrich Kesten wurde die deutsche Staatsbürgerschaft, die er 1923 durch Neutralisation erhalten hatte, wieder aberkannt, und mit ihm wurde auch seine Frau ausgebürgert. In einem langen handschriftlichen Brief an den Bürgermeister der Hansestadt Lübeck bitten Heinrich und Lina Kesten verzweifelt und inständig darum, die Ausbürgerung rückgängig zu machen.

Brief von Heinrich Kesten vom 28. Juni 1935 an den Bürgermeister der Hansestadt Lübeck [2]
Brief von Heinrich Kesten vom 28. Juni 1935 an den Bürgermeister der Hansestadt Lübeck [2]

Doch das Bittgesuch des Ehepaares hatte keinen Erfolg. Die ausführliche Stellungnahme des zuständigen Senators Schröder mündet in der zynischen Feststellung:

"K. muß hiernach als typisch jüdischer Volksschädling betrachtet werden, der nicht als erwünschter Bevölkerungszuwachs anzusehen und der deutschen Staatsangehörigkeit unwürdig ist."

Die Ausbürgerung hatte auch zur Folge, dass Heinrich und Lina Kesten ab November 1938 massiv von der Gestapo und anderen Polizeibehörden unter Druck gesetzt wurden, Deutschland zu verlassen, anderenfalls drohe die Einweisung in ein Konzentrationslager. In einer Überprüfungsliste der Polizeiverwaltung aus dem Sommer 1939 heißt es:

"Lina Kesten bemüht sich um Auswanderung. Pinkas Hersch Kesten ist krank und nicht transportfähig."

Erklärung zur Annahme der Zwangsnamen [3]
Erklärung zur Annahme der Zwangsnamen [3]

In der handschriftlichen Erklärung von Heinrich und Lina Kesten, mit der sie am 30. Dezember 1939 die verordneten Zwangsvornamen annehmen, geben sie noch ihre Anschrift mit Holstenstraße 17 an, doch wenige Monate später musste das Ehepaar seine Wohnung verlassen und wurde zum Umzug in die St. Annen-Straße 11 gezwungen. Bertha und Dora Lexandrowitz erwähnen diese Situation in ihren Briefen an die Verwandten in Shanghai. Im Februar 1940 schreiben sie: "Frau Buschner hat Kestens Wohnung bekommen, und K. wohnen im Asyl, wo Dr. Sichels gewohnt hat, sie haben 2 schöne Zimmer u. die Küche für sich." (S.79, Brief vom 15. Februar 1940) Frau Buschner war die nichtjüdische Frau des früheren Kastellans der jüdischen Gemeinde; der jüdische Zahnarzt Dr. Sichel konnte mit seiner Familie 1939 aus Deutschland in die USA flüchten.

Das Altersheim der jüdischen Gemeinde in der St. Annen-Straße 11, kurz Asyl genannt, war mehr und mehr zu einer Sammelunterkunft für diejenigen geworden, die aus ihren Wohnungen bei nichtjüdischen Vermietern gedrängt wurden. Im Asyl übernahm Lina Kesten die Hauswartstelle.

Ende Dezember 1940 berichtete Dora Lexandrowitz, mittlerweile in Hamburg lebend, über einen Besuch in Lübeck: Bei "Kestens habe ich Kaffee getrunken." (S.115, Brief vom 7. Januar 1941)

Ein Jahr später, am 25. Dezember 1941, verstarb der schwerkranke Heinrich Kesten im Alter von 70 Jahren, laut ärztlichen Angaben auf dem Totenschein an einer Rückenmarksschwindsucht und Herzschwäche.

Bald darauf wurde Lina Kesten am 19. Juli 1942 von Lübeck nach Theresienstadt deportiert. Mit dem Transport VI/2 kam sie am 20.7.1942 dort an.
Am 23.10.1944, also über zwei Jahre später, wurde sie weiter deportiert nach Auschwitz und dort ermordet. Sie war 65 Jahre alt.

Amalie und Bruno Blume wurden im April 1942 von Düsseldorf nach Izbica deportiert, wo sich ihre Spur verliert. Izbica liegt in Polen südöstlich von Lublin. Das Konzentrationslager Izbica war das größte Transit-Ghetto zwischen den Vernichtungslagern Belzec und Sobibor. Im Spätherbst 1942 begann die Auflösung des Ghettos, und die meisten Juden wurden in die Vernichtungslager transportiert.

Bildnachweise

[1] Museum für Kunst und Kulturgeschichte der Hansestadt Lübeck
[2] Archiv der Hansestadt Lübeck, Neues Senatsarchiv, NSA 880, Stadt- und Landamt
[3] Archiv der Hansestadt Lübeck, Staatliche Polizeiverwaltung 124

Verzeichnis der Quellen außerhalb der Standardfachliteratur

  • Adressbücher, Meldekartei und Sterberegister der Hansestadt Lübeck
  • Archiv der Hansestadt Lübeck

    • Staatliche Polizeiverwaltung 25, 109, 110, 124;
    • Neues Senatsarchiv, NSA 880, Stadt- und Landamt

  • Datenpool JSHD der Forschungsstelle “Juden in Schleswig-Holstein” an der Universität Flensburg
  • "Hoffentlich klappt alles zum Guten...", Die Briefe der jüdischen Schwestern Bertha und Dora Lexandrowitz, bearbeitet und kommentiert von Heidemarie Kugler-Weiemann und Hella Peperkorn, Neumünster 2000
  • Memorbuch zum Gedenken an die jüdischen, in der Schoa umgekommenen Schleswig-Holsteiner und Schleswig-Holsteinerinnen, hrsg. v. Miriam Gillis-Carlebach, Hamburg 1996
  • Albrecht Schreiber, Zwischen Davidstern und Doppeladler, Illustrierte Chronik der Juden in Moisling und Lübeck, Lübeck 1992
  • Theresienstädter Gedenkbuch, Prag 1995 und 2000
  • Yad Vashem, The Central Database of Shoah Victims’ Names


Heidemarie Kugler-Weiemann, 2012