• Deutsch
  • English

Fünfhausen 5 - Familie Daicz

Die Familie Daicz hatte ihre Wohnung im Haus Fünfhausen 5.

Bebauung im Bereich Fünfhausen 5 heute
Bebauung im Bereich Fünfhausen 5 heute

Die Bebauung dieser Straße sah bis 1942 völlig anders aus als heute. Zwar gibt es kein Foto des Hauses Nr. 5, aber zwei Bilder vom Fünfhausen können doch einen Eindruck geben.

Ansicht vom FÜNFHAUSEN bis 1942
Ansicht vom FÜNFHAUSEN bis 1942
Ansicht vom FÜNFHAUSEN bis 1942
Ansicht vom FÜNFHAUSEN bis 1942

Albert Daicz, geboren am 20.12.1894 in Breziny / Lodz, war Schneider von Beruf. Auch seine Frau Chana (Anna) Daicz, geborene Finkelberg stammte aus diesem Ort in Galizien, sie wurde am 17.10.1893 geboren.

Mit ihren älteren Töchtern Gisela (geboren am 20.2.1917) und Esther (geboren am 15.4.1919) kam das Ehepaar 1920 nach Lübeck. Hier kamen die beiden Söhne zur Welt: Max Isaak am 30.5. 1921 und Julius am 18.1.1923. Wegen  geistiger Behinderungen wurden die beiden Jungen ab 1931 im Heim Vorwerk untergebracht.

Am 13. September 1926 wurde schließlich die jüngste Tochter Hanny Rosa geboren, auch Rosi genannt. Sie ist auf einem der Fotos aus der Jüdischen Religionsschule abgebildet.

Schülerinnen und Schüler der jüdischen Religionsschule in den 30er Jahren
Schülerinnen und Schüler der jüdischen Religionsschule in den 30er Jahren

Rosi besuchte nach der Grundschulzeit in der Burgschule ab März 1938 die Geibel-Mädchen-Mittelschule. Eine ihrer damaligen Mitschülerinnen in der Klasse von Frau Leonhard erinnert sie als nett und immer fröhlich. Rosi habe wunderschöne blonde Locken gehabt, ein schmales spitzes Gesicht,  und  sie habe eine Brille getragen. Nach dem 9. November 1938 habe sie die Schule verlassen müssen, so dass sie nur sehr wenige Monate in einer Klasse gewesen seien.  Nach dem Erlass vom 15. November 1938 war jüdischen Kindern und Jugendlichen der Besuch "deutscher Schulen " nicht länger gestattet. Am 13.12.1938 teilte die Geibel-Mittelschule dem Schulamt mit, dass Rosi Daicz aus der Klasse 6b ausscheide.

Rosis Kummer über diese Ausgrenzung dürfte von größeren Sorgen verdrängt worden sein: Der Vater war nämlich am 9. November verhaftet und ins KZ Sachsenhausen gebracht worden. Während seiner Abwesenheit kam ein Schreiben, das der Familie vollends ihre Existenzgrundlage raubte: Die Lübecker Handwerkskammer hatte den Schneider Albert Daicz aus der Handwerksrolle gelöscht. Seit 1933 bereits waren die Einkünfte durch die Boykottmaßnahmen so stark zurückgegangen, dass sich die Familie nur durch die Einkünfte der beiden älteren Töchter ernähren konnte.

Schreiben der Handwerkskammer an Albert Daicz vom 29.12.1938 betr. Löschung aus der Handwerksrolle (LAS Abt. 761 Nr. 8146, Bl. 17)
Schreiben der Handwerkskammer an Albert Daicz vom 29.12.1938 betr. Löschung aus der Handwerksrolle (LAS Abt. 761 Nr. 8146, Bl. 17)
Entlassungsschein für Albert Daicz aus dem KZ Sachsenhausen (LAS Abt. 761 Nr. 8146, Bl. 7)
Entlassungsschein für Albert Daicz aus dem KZ Sachsenhausen (LAS Abt. 761 Nr. 8146, Bl. 7)

Albert Daicz konnte Anfang 1939 mit anderen Männern aus Lübeck nach Shanghai emigrieren und so unter schweren und traurigen Bedingungen überleben. Seine Familie wollte er nachholen, was aber trotz vielfacher Bemühungen nicht gelang.

In den Briefen von Bertha und Dora Lexandrowitz an ihre Verwandten in Shanghai ist einiges über Frau Daicz und ihre Kinder zu lesen. Im November 1939 schreibt Rosi einen Gruß unter den Brief:

"Meine Lieben! Da ich gerade hier bin, möchte ich einen Gruß zuschreiben. Mir geht es gut. dasselbe hoffe ich auch von Euch zu hören. Grüßen sie bitte Papa von mir, wenn Sie ihn sehen. Viele Grüsse Rosi." ( S. 69)

Aus den Briefen geht auch hervor, dass Frau Daicz' Mutter Malka Finkelberg lange im Krankenhaus liegen und schließlich in der Familie zu Hause über mehrere Monate bis zu ihrem Tod im Februar 1940 gepflegt werden musste.

Am 19. Februar 1941 schreibt Bertha Lexandrowitz nach Shanghai:

"Am Sonntag bin ich dann allein zum Friedhof nach Moisling gefahren. (Gisela Daicz wollte mich begleiten, aber konnte nicht, da sie gerade am Freitag vorher die Todesnachricht ihrer beiden Brüder bekommen hatten u. natürlich sehr kaputt waren.) Infolge der Schneeschmelze stand das Wasser ½ m hoch u. ich konnte trotz der Gummistiefel von Rosi Daicz mich gar nicht an den Gräbern aufhalten... Mein Herz war mir ganz zerbrochen. " (S.121)

Die beiden Jungen waren am 16.9.1940 aus dem Heim Vorwerk zusammen mit 13 weiteren jüdischen Kindern und Jugendlichen nach Hamburg-Langenhorn verlegt worden. Nur wenige Tage später, am 23.9.1940 wurden sie von dort nach Brandenburg transportiert und noch am selben Tag ermordet. In der Tötungsanstalt Brandenburg wurden zwischen Februar und Dezember 1940 insgesamt 8.989 Menschen in einer Gaskammer ermordet.

Die Nachricht von ihrem Tod wurde der Familie offenbar erst verspätet mitgeteilt.

Zu diesem Zeitpunkt waren Frau Daicz und ihre Töchter bereits aus der Wohnung Fünfhausen 5 vertrieben und hatten Unterschlupf in der St.Annen-Straße 11 gefunden.

Rosi ging nach dem Ausschluss aus der Mädchen-Mittelschule in Lübeck in Hamburg zur Schule und fuhr täglich hin und her. Die hohen Kosten für die Bahnfahrten wurden von den jüdischen Organisationen getragen, sollten aber ab August 1941 eingespart werden. Deshalb schrieb Frau Daicz am 20.8.1941 einen Brief an den Schulleiter Direktor Spier:

                                                                     Lübeck d. 20.9.41

Sehr geehrter Herr Direktor Jonas

Als meine Tochter Rosi am Donnerstag nachmittag hierher kam, um sich zu verabschieden und abends zurückzufahren, zeigte sich ein leichtes Unwohlsein bei ihr an. Da sie auch ein wenig Fieber hatte, zog ich vor, sie einige Tage hier zu behalten. Bis heute Sonntag hat sich Rosis Lage eher verschlimmert als verbessert. Sie muss nämlich einer Halsentzündung verbunden mit zeitweise auftretenden Schwindelanfällen halber das Bett hüten. Ich bitte Sie daher höflichst ihr Fernbleiben von der Schule zu entschuldigen.

Gleichzeitig möchte ich Ihnen folgendes mitteilen. Es wäre meinerseits gänzlich unmöglich mich ganz von meiner Tochter Rosi trennen zu müssen. Mein Mann weilt in Shanghai, zwei meiner Kinder habe ich erst kürzlich durch  ein tragisches Schicksal verloren, zwei verlassen in einigen Wochen mein Haus um nach ausserhalb zu heiraten, so ist Rosi die letzte, die mir noch bleibt. Wenn sie auch bei meiner Schwester dort wohnt, so ist dieses eher eine Gnade als ein Trost für mich aus Gründen, die ich hier nicht angeben möchte. Wir sind nun zum Entschluss gekommen, dass Rosi umgehend die Schule verlässt. Ich hoffe nun, dass Sie verehrter Herr Direktor meinem Wunsche nichts in den Weg legen. Rosi soll hier bei mir im Haushalt angelernt werden, oder wenn dieses nicht möglich ist,irgend eine andere Beschäftigung aufnehmen. Oder sollte es nicht möglich sein  Rosi täglich hin und her fahren zu lassen ? Ich hoffe in meiner Bitte Verständnis bei Ihnen zu finden und

Zeichne Hochachtungsvoll

Frau Daicz

Der Schulleiter Dr. Alberto Israel Jonas antwortet am 26.9.1941:

“Sehr geehrte Frau Daicz! Hiermit bestätige ich den Empfang Ihres Briefes vom 20.ds. Da Rosi ihrer Schulpflicht genügt hat, bestehen keine Bedenken, daß Sie sie aus der Schule herausnehmen. Es ist nur schade, daß Rosi auf diese Weise aus ihrer schulischen Entwicklung herausgerissen wird. Ich will versuchen, die Erlaubnis zu erwirken, daß Rosi hier wohnen kann und trotzdem in den Ferien nach Hause fahren darf. Sie erhalten von mir Bescheid, sobald ich etwas erfahren habe.”

(Staatsarchiv Hamburg, 362-6/10 Talmud Tora)

Aus den vorhandenen Unterlagen lässt sich nicht entnehmen, ob Rosi weiter zur Schule gegangen ist.

Antrag von Gisela Daicz bei der Geheimen Staatspolizei in Lübeck auf die Reiseerlaubnis nach Hamburg
Antrag von Gisela Daicz bei der Geheimen Staatspolizei in Lübeck auf die Reiseerlaubnis nach Hamburg

Am 17.10.1941 findet in Hamburg die Hochzeit von Esther Daicz mit Rudolf Bähr statt, wozu alle Familienmitglieder und Freunde eingeladen sind. Ihre Anträge auf das Verlassen Lübecks und eine Bahnfahrt nach Hamburg finden sich im Lübecker Archiv.

Nur wenige Tage nach der Heirat, am 8.11.1941 wurde Esther mit ihrem Mann von Hamburg nach Minsk deportiert und kehrte nie zurück.

Einen Monat später, am 6. Dezember 1941, folgte für Anna Daicz und ihre Töchter Gisela und Rosi die sog. Evakuierung nach dem Osten, die Deportation nach Riga, wo sie irgendwann ermordet wurden. Es ist nicht bekannt, ob sie bereits in den ersten Monaten im Lager Jungfernhof ums Leben kamen, ob sie zu den vielen Opfern der Erschießungen im Bikerniekiwald im Februar und März 1942 gehören oder ob sie noch längere Zeit im Getto Riga oder einem der Konzentrationslager eingesperrt und zu harter Arbeit gezwungen waren.

Albert Daicz schlug sich als Flickschneider im Getto von Shanghai durch. Im Verzeichnis der Flüchtlinge in Hongkew findet sich seine Adresse : 302/5 Zang Yang Lu. Im Jahre 1947 heiratete er ein zweites Mal. Sein Versuch, in Israel heimisch zu werden, schlug fehl. 1953 ging er nach New York und starb dort nach zehn Jahren verzweifelten Existenzkampfes am 13. März 1963.

Verzeichnis der Quellen außerhalb der Standardfachliteratur:

  • Adressbücher und Meldekartei der Hansestadt Lübeck

    • Archiv der Hansestadt Lübeck,
    • Staatliche Polizeiverwaltung 109, 110, 121, 126
    • Schul- und Kultusverwaltung 375
    • Buch der Erinnerung, Die ins Baltikum deportierten deutschen, österreichischen und tschechoslowakischen Juden, bearbeitet von Wolfgang Scheffler und Diana Schulle, München 2003
    • Datenpool JSHD der Forschungsstelle "Juden in Schleswig-Holstein" an der Universität Flensburg
    • Kugler-Weiemann, Heidemarie / Peperkorn, Hella (Hrsg.): "Hoffentlich klappt alles zum Guten ", Die Briefe der jüdischen Schwestern Bertha und Dora Lexandrowitz (1939 - 1941), Neumünster 2000
    • Landesarchiv Schleswig, Abt. 352 Kiel, 9043, 8059 und Abt. 761, 17959,8146, 8147, 8148
    • Albrecht Schreiber, Zwischen Davidstern und Doppeladler, Illustrierte Chronik der Juden in Moisling und Lübeck, Lübeck 1992
    • Staatsarchiv Hamburg  362-6/10 Talmud Tora
    • Yad Vashem, The Central Database of Shoah Victims Names
    • Ursula Randt, Die Talmud Tora Schule in Hamburg 1805 bis 1942, Hamburg 2005
    • Zeitzeugengespräche

    Heidemarie Kugler-Weiemann, 2008

    Für die Brüder Max Isaak und Julius liegen seit dem 8.Mai 2012 zwei weitere Stolpersteine beim ehemaligen Heim Vorwerk:
    Triftstraße 139-143