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Engelsgrube 50 - Familie Fisch

In der Engelsgrube 50, zuletzt in der Wohnung im dritten Stock, wohnte die Familie Fisch: der Schlosser Wolf Fisch mit seiner Frau Betty, geborene Cohn und ihren beiden Kindern Hanna und Siegfried.

Engelsgrube 46-52, Museen für Kunst- und Kulturgeschichte der Hansestadt Lübeck, Ausschnitt aus dem Foto von Dr. Wember, ohne Jahr
Engelsgrube 46-52, Museen für Kunst- und Kulturgeschichte der Hansestadt Lübeck, Ausschnitt aus dem Foto von Dr. Wember, ohne Jahr

Wolf Fisch wurde am 24.Dezember 1891 im polnischen Lomse (Lomza) östlich von Bialystok geboren. Nach dem Ersten Weltkrieg kam er nach Lübeck, wo er Betty Cohn kennenlernte. Sie war am 14. März 1891 geboren und gehörte zu einer seit langem in Lübeck ansässigen Familie. Am 29.Oktober 1920 fand die Hochzeit in Lübeck statt.

Am 30.September 1921 wurde ihre Tochter Hanna geboren, der Sohn Siegfried am 30. Dezember 1922. Bald darauf machte sich Wolf Fisch 1923 als Kunst- und Bauschlosser selbständig.

Die Familie wohnte bis 1932 in der Lindenstraße 27a im zweiten Stock. Die beiden Kinder besuchten die naheliegenden Grundschulen in der Moislinger Allee, Hanna die Mädchenschule, die heutige Bugenhagenschule, Siegfried die Knabenschule, die heutige Lutherschule.

Ab 1933 verzeichnet das Lübecker Adressbuch Wohnung und Werkstatt hier in der Engelsgrube 50. Die Schlosserei befand sich im Erdgeschoss des Hauses. Hanna kam auf die Burgschule in der Großen Burgstraße, Siegfried besuchte das  Katharineum. Gemeinsam gingen sie zum Religionsunterricht in der St.Annen-Straße und lernten dort in einer Klasse.

Schülerinnen und Schüler der jüdischen Religionsschule
Schülerinnen und Schüler der jüdischen Religionsschule

Eine der Mitschülerinnen von Hanna in der Burgschule war Gisela Schäfer, die mit ihren Eltern und drei Geschwistern An der Untertrave 44/45 wohnte. Der Schulweg führte durch die Engelsgrube, vorbei am Haus Nummer 50, wo Hannas Vater Fahrräder verkaufte und reparierte. Jeden Samstag holte eines der Mädchen aus der Klasse Hanna von Zuhause ab und trug ihren Ranzen, was sie am Schabbat nicht selbst tun durfte. Der Klassenlehrer Herr Gabriel kümmerte sich stets darum, dass es nicht vergessen wurde.

Hanna war klein und zierlich, ein eher stilles und sehr liebes Mädchen, mit dem Gisela Schäfer oft gespielt hat. Einer der Treffpunkte war die Grünfläche an der Drehbrücke, wo oft eine ganze Gruppe mit Murmeln oder Pickern spielte. Auch Versteck gehörte zu den beliebten Spielen.

Einmal verursachte Gisela Schäfer beim Rodeln auf dem Berg hinunter zur Hafenstraße einen Unfall mit einem Fahrradfahrer, der das beschädigte Rad empört zu ihrem Vater brachte. Hannas Vater habe das Rad sofort und kostenlos repariert und ihr damit sehr geholfen.

Nach der Schulzeit begann Gisela Schäfer ihre Ausbildung in den Hutwerkstätten von Margarethe Vitense in der Hüxstraße 13. Ihr Weg zur Arbeit führte sie weiterhin durch die Engelsgrube, vorbei am Geschäft von Wolf Fisch. Eines Morgens im November 1938 waren die Scheiben des Fahrradgeschäftes zerschlagen, ebenso wie die eines Möbelgeschäftes, das ebenfalls an ihrem Weg lag. An diesem Tag hatte Gisela Schäfer Unterricht in der Berufsschule in der St.Annen-Straße. Von ihrem Platz aus konnte sie die gegenüberliegende Synagoge sehen und entdeckte plötzlich Flammen. Die Lehrerin habe den Unterricht beendet und die Klasse mit der Mahnung entlassen, sofort nach Haus zu gehen.

Hanna und ihre Familie habe sie nach der Kristallnacht nicht mehr gesehen. Nach dem Krieg jedoch habe sie Hannas Bruder Siegfried einmal getroffen.

Die "Reichskristallnacht" zerstörte das Leben der Familie. Wolf Fisch wurde am 10. November 1938 verhaftet, war zunächst in sog. Schutzhaft in Lübeck und kam dann ins Konzentrationslager Sachsenhausen, wo er schwerste Arbeit verrichten musste und misshandelt wurde. Am 9. Januar 1939 wurde er aus dem KZ nach Hause entlassen, von wo er wenige Tage später nach Shanghai flüchten konnte.

Die Lübecker Handwerkskammer hatte seinen Namen bereits aus der Handwerksrolle gelöscht, ebenso die anderer jüdischer selbständiger Handwerker.

Siegfried Fisch musste das Katharineum verlassen. Die "Volks- und Oberschule für Juden " in Hamburg stellt ein Jahr später, am 21. November 1939 eine Bescheinigung für ihn aus:

"Siegfried Israel Fisch, geboren am 30.12.22 in Lübeck, besucht seit dem 10. März 1939 die Aufbauklasse (Abteilung Schlosserei) unserer Schule. Der Ausbildungslehrgang der Schlosserei beansprucht im allgemeinen 2 Jahre, so daß damit zu rechnen ist, daß Fisch bis zum April 1941 die Lehrwerkstätte besuchen muß. Tägliche Arbeitszeit: 8 Uhr bis 15 Uhr. "

Was seine Schwester Hanna in dieser Zeit gemacht hat, ist nicht bekannt. Möglicherweise machte sie eine Schneiderlehre, eventuell auch in Hamburg.

Am 20. Mai 1939 erhielt Betty Fisch die Aufforderung des Lübecker Polizeipräsidenten, innerhalb von zehn Tagen mit ihren Kindern das Reichsgebiet zu verlassen. Dass ihr Mann als staatenlos galt, wurde nun  offenbar auch für sie und die beiden Kinder angewandt, alle drei hier in Lübeck geboren und aufgewachsen. Die Bemühungen der Familie um eine Auswanderungsmöglichkeit wurden von den Polizeibehörden scharf kontrolliert. Auf einer Überprüfungsliste vom Juli 1939 heißt es, Siegfried Fisch sei für Palästina gemeldet und habe sich nach Neuendorf abgemeldet. Dort gab es eine Hachschara-Einrichtung zur Vorbereitung auf ein Leben in Palästina. Hanna Fisch sei für England gemeldet, Betty Fisch für Schanghai.

Nach der Erinnerung von Siegfried Fisch besaßen sie bereits alle drei Schiffskarten für die Fahrt nach Schanghai im Juli 1939 mit der Conte Bianca Mano, doch habe seine Mutter auf Drängen der jüdischen Organisationen die Karten für andere jüdische Menschen weitergegeben, die sich in noch größerer Bedrängnis befanden. So konnte nur Betty Fischs Schwester Gerda Schapse, geb. Cohn mit ihrer Tochter Ilse ihrem Mann Max Schapse und dem Schwager Wolf Fisch nach Schanghai folgen.

Zwangsnamen: Wolf Fisch
Zwangsnamen: Wolf Fisch
Zwangsnamen: Max Schapse
Zwangsnamen: Max Schapse

In den Briefen von Dora und Bertha Lexandrowitz an ihre Verwandten in Schanghai werden die Familien Fisch und Schapse einige Male kurz erwähnt. U.a. heißt es am 7.6.1940:

"Übrigens erzählte mir soeben Frau D., dass Frau Fisch u. die Kinder heute das Permit bekommen haben. Sie ärgert sich sehr, dass es bei ihr noch nicht soweit ist, obgleich man noch nicht weiß, ob u. wie Familie Fisch fahren können. Für Staatenlose sind die Transitvisen auch via Sibiria schwer zu bekommen, und man muss abwarten, wie es wird. " (S.95)

Betty Fisch und ihren beiden Kindern gelang es nicht mehr, Deutschland zu verlassen. Siegfried Fisch, der die Deportation und die Jahre in Riga überleben konnte, berichtete in einem Gespräch im Juni 1993 über seine Erinnerungen: Die Familie musste sich am 4. Dezember 1941 im israelitischen Altersheim neben der Synagoge in der St. Annen - Straße 11 einfinden, ebenso viele andere jüdische Familien. Es wurde gesagt, sie kämen zum Arbeitseinsatz nach Riga. Neben ihrem persönlichen Gepäck durften sie Wolldecken, Lebensmittel und einen Ofen mitnehmen. Von der Synagoge aus seien sie am 6. Dezember am helllichten Tag geschlossen zum Bahnhof marschiert, unter anderem durch die Holstenstraße. Am Bahnhof standen ein Personenwagen und ein Güterwagen bereit, den sie selbst mit ihrem Gepäck beluden. Dieses hätten sie nie wieder gesehen.

Über Bad Oldesloe, wo die Hamburger Juden dazukamen, fuhr der Zug nach Riga. Sie kamen auf den Jungfernhof, einen ehemaligen Gutshof. Hier stand eine alte verfallene Scheune, in der auf vierstöckigen Holzstellagen  tausende Menschen untergebracht wurden. Der Winter 1941 war sehr kalt, durch das kaputte Dach schneite es herein. Siegfried Fisch wurde sofort von seiner Mutter und seiner Schwester getrennt. Monate später habe er seine Schwester Hanna im Rigaer Ghetto noch einmal gesehen, seine Mutter nie mehr, sie sei sofort umgebracht worden.

Hanna Fisch verlor ihr Leben Ende 1944 im KZ Stutthof, nach drei qualvollen Jahren mit harter Arbeit, Hunger und Schikanen.

Wolf Fisch lebte nach dem Krieg zunächst in Palästina, später Israel und kam dann aber nach Lübeck zurück, wo auch sein Sohn Siegfried nach der Rückkehr aus Riga bis zu seinem Tod 2002 mit seiner Frau und seinen Kindern gelebt hat.

 

Verzeichnis der Quellen außerhalb der Standardfachliteratur:

  • Adressbücher und Meldekartei der Hansestadt Lübeck
  • Archiv der Hansestadt Lübeck, Schul- und Kultusverwaltung 375,
  • Staatliche Polizeiverwaltung 8, 25, 109, 110, 124, 126
  • Buch der Erinnerung, Die ins Baltikum deportierten deutschen, österreichischen und tschechoslowakischen Juden, bearbeitet von Wolfgang Scheffler und Diana Schulle, München 2003
  • Datenpool JSHD der Forschungsstelle "Juden in Schleswig-Holstein" an der Universität Flensburg
  • Gespräche mit Siegfried Fisch, Juni 1993 und Mai 2000
  • Kugler-Weiemann, Heidemarie / Peperkorn, Hella (Hrsg.): "Hoffentlich klappt alles zum Guten ", Die Briefe der jüdischen Schwestern Bertha und Dora Lexandrowitz (1939 - 1941 ), Neumünster 2000
  • Memorbuch zum Gedenken an die jüdischen, in der Schoa umgekommenen Schleswig-Holsteiner und Schleswig-Holsteinerinnen, hrsg. v. Miriam Gillis-Carlebach, Hamburg 1996
  • Staatsarchiv Hamburg  362-6/10 Talmud Tora
  • Yad Vashem, The Central Database of Shoah Victims Names
  • Zeitzeugengespräche

Heidemarie Kugler-Weiemann, 2008