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In der Dankwartsgrube 66 wohnte Heinrich Niemann.

Heinrich Niemann wurde am 7. April 1906 in Lübeck als Sohn der Eheleute Adolf Wilhelm Martin und Louise Wilhelmine Ida Niemann, geb. Bracht, geboren. Er wurde in St. Jakobi getauft, trat später aber aus der Kirche aus. Aufgewachsen war er in der Hundestraße, später wohnte die Familie im Domviertel. Einen Großteil seiner Kindheit und Jugend verbrachte er im Waisenhaus.

Dankwartsgrube 68 und 66 [1]
Dankwartsgrube 68 und 66 [1]
Bescheinigung der Eheschließung [2]
Bescheinigung der Eheschließung [2]

Am 30. November 1935 heiratete er die knapp ein Jahr jüngere Mariechen Kähler, die er bei der Arbeit im Hafen kennen gelernt hatte. Sie zogen in die Dankwartsgrube 66. Neun Monate später kam ihre gemeinsame Tochter Lotti zur Welt. Er war gerade 30 Jahre alt geworden und befand sich zu dem Zeitpunkt wegen seiner illegalen politischen Tätigkeit in Untersuchungshaft. Seine Tochter sollte ihn nie kennen lernen.

Heinrich Niemann war als ungelernter Arbeiter beschäftigt. Er arbeitete unter anderem vom 14.11.1924 bis 17.03.1926 in der Dampfbäckerei „Hansa“, Johannes Junge, war auch als Wanderarbeiter beschäftigt, zum Beispiel vom 28. Juli bis zum 10. Dezember 1930 für die Kunstgärtnerei Stroop in Delbrück in Westfalen, später auf dem Hochofenwerk. Zur Zeit seiner Verhaftung war er ohne festes Arbeitsverhältnis und arbeitete als Tagelöhner im Lübecker Hafen.

Er gehörte als Funktionär der „Roten Hilfe“ und dem „Freidenkerverband“ sowie der „Interessengemeinschaft für Arbeiterkultur“ an. Der Schwerpunkt seiner Arbeit lag dabei auf der Unterstützung der inhaftierten Mitglieder des "Roten Frontkämpferbundes", der SAP, KPD, Gewerkschaftern wie auch Parteilosen und deren Angehörigen, die bereits von den Nationalsozialisten verhaftet worden waren.

Und er war Mitglied der Kommunistischen Partei Deutschlands und politisch aktiv im Widerstand gegen die Nationalsozialisten. Er stand in engem Kontakt mit der Familie Bringmann, die besonders aktiv im kommunistischen Widerstand tätig war. Ferner war er mit Jonny Ring und Hans Holz befreundet.

Nach dem Reichstagsbrand am 27. Februar 1933 begann die reichsweite Verfolgung der KPD – in Lübeck noch unter dem sozialdemokratischen Polizeisenator Mehrlein. Noch vor der Reichstagswahl wurden am 2. und 3. März alle führenden KPD-Funktionäre verhaftet, derer die Politische Polizei habhaft werden konnte. Die Parteibüros wurden mit großem Polizeiaufgebot durchsucht und alles Material beschlagnahmt; alle Wahlplakate in der Stadt wurden entfernt. Damit befand sich die Partei praktisch in der Illegalität.

In den ersten Monaten des Jahres 1933 wurden laufend einzelne Mitglieder oder kleinere Gruppen verhaftet, ohne dass der Widerstand nachließ. Seit Ende März wusste die Presse häufiger von antifaschistischen Aktionen zu berichten, wie Hissen von roten Fahnen auf Gebäuden und Schornsteinen, Anbringen von antifaschistischen Losungen an Häuserwänden und auf dem Straßenpflaster, Umbenennen von Straßennahmen, Verteilen und Vertrieb von Flugblättern und Zeitungen. Es wurden Geldsammlungen für die Familien der Inhaftierten organisiert.

Entlassungsschein der Gefangenenanstalt Lauerhof, Lübeck [3]
Entlassungsschein der Gefangenenanstalt Lauerhof, Lübeck [3]

Am 23. September 1933 wurde Heinrich Niemann in Haft genommen, weil er vier Exemplare der mittlerweile verbotenen „Norddeutschen Zeitung“ am 18.9.1933 weiter vertrieben hatte. Er wurde im Wollmagazin durch bis zu zwölfstündige ununterbrochene Tag- und Nachtverhöre ohne Essen und Trinken und stundenlanges regungsloses Stehen mit dem Gesicht zur Wand gequält. Zwei Tage später, am 25. September, wurde er vom Amtsgericht in Lübeck wegen des Verkaufs der illegalen Zeitungen wegen „des Verrats am deutschen Volke gemäß § 6 der Verordnung des Reichspräsidenten vom 28.2.1933 zu einer Strafe von einem Jahr Gefängnis verurteilt, die er vom 28.9.1933 bis 25.9.1934 in der Strafanstalt Lübeck-Lauerhof absaß.

Beschluss des Amtsgerichts wegen erlassener Strafe [4]
Beschluss des Amtsgerichts wegen erlassener Strafe [4]

Am 26. Juni 1934 verurteilte ihn ein Schöffengericht wegen Vergehens gegen § 2 der „Verordnung des Reichspräsidenten über die Auflösung der kommunistischen ‚Gottlosenorganisation‘ vom 3.5.1932“ zu drei Monaten Gefängnis, diese Strafe wurde ihm jedoch durch die Amnestie vom 7.8.1934 am 31. August 1934 erlassen. Nach seiner Entlassung nahm er seine illegale politische Tätigkeit wieder auf. In der Folgezeit war er verschiedentlich als Arbeiter tätig.

Im November 1933 gelang es der Gestapo, die Spitze und einen großen Teil der der Widerstandsgruppe durch Massenverhaftungen auszuschalten. Auch nach der Verhaftungswelle Ende 1933 waren Teile der KPD-Widerstandszellen intakt geblieben. Unter der Leitung des blinden MdBü Ernst Puchmüller, der im Juni 1933 aus dem KZ Fuhlsbüttel entlassen worden war, wurde mit dem Aufbau einer neuen Widerstandsgruppe begonnen, zu der auch Heinrich Niemann wieder stieß.

Man schmuggelte über den Hafen Zeitschriften, Zeitungen und Bücher aus Skandinavien in die Stadt und verteilte sie über einige Hafenkneipen. 1934 und 1935 wurde je eine antifaschistische Mai-Zeitung für Lübeck verfasst, in Oslo gedruckt, per Schiff nach Lübeck eingeschmuggelt und in ca. 3500 Exemplaren verteilt. Auch in Lübeck wurde eine Reihe von Flugblättern hergestellt.

Im Oktober/November 1935 wurden in einer groß angelegten Verhaftungswelle über 250 Verdächtige verhaftet und der organisierte Widerstand damit nachhaltig zerschlagen. Über 120 Widerständler wurden in mehr als 17 Prozessen von Sommer bis Ende 1936 vor dem Hanseatischen Oberlandesgericht und dem Volksgerichtshof meist zu langjährigen Zuchthausstrafen verurteilt. Alle Prozesse fanden im Lübecker Gerichtsgebäude statt. Danach gab es nur noch vereinzelte Widerstandsaktionen. Weitere Kommunisten wurden vor allem nach Kriegsbeginn, als die Verfolgung noch engmaschiger wurde, aufgedeckt und verhaftet.

Am ersten Weihnachtstag, den 25. Dezember 1935, keine vier Wochen nach seiner Heirat mit der Hausangestellten Maria Johanna Luise Kähler, wurde auch Heinrich Niemann verhaftet und kam zunächst in die Untersuchungshaftanstalt Lübeck. Drei Tage später nahm ihn die Geheime Staatspolizei in sogenannte „Schutzhaft“.

Ladung des Strafsenats des Hanseatischen Oberlandesgerichts Hamburg [5]
Ladung des Strafsenats des Hanseatischen Oberlandesgerichts Hamburg [5]

Ein Dreivierteljahr später, am 22. September 1936, wurde er vom Strafsenat des Hanseatischen Oberlandesgericht Hamburg im Gerichtsgebäude Lübeck, Große Burgstraße 4, Zimmer 40, 1. Stock wegen „Vorbereitung zum Hochverrat“ zu 4 Jahren Zuchthaus und 4 Jahren Ehrverlust verurteilt, wobei ihm die 8 Monate Untersuchungshaft angerechnet wurden. Seine Haft verbüßte er im Strafgefängnis Börgermoor, einem der berüchtigten Emslandlager. Die Bewachung des ehemaligen Konzentrationslagers oblag der SA-Pionierstandarte 10, deren Angehörige den aus der KZ-Phase bekannten Terror und die Schikanen gegenüber den Gefangenen fortsetzten. Zudem war ein Großteil der Strafgefangenen auch nach heutigem Rechtsempfinden als “kriminell” einzustufende Schwerverbrecher. Die Arbeit in den Mooren war mörderisch. Schwer gezeichnet wurde Heinrich Niemann offiziell am 22. Januar des Jahres 1940 entlassen.

Wie viele seiner Mitstreiter kam er allerdings nach der Verbüßung der Haftstrafe nicht frei, sondern in Anschlusshaft in ein Konzentrationslager. Am 28. März 1940 wurde sein Zugang in Neuengamme verzeichnet. Er trug die niedrige Häftlingsnummer 81. Über seine Funktion im Lager ist nichts weiter bekannt.

Brief aus Neuengamme 1.10.1944 [6] und [7]
Brief aus Neuengamme 1.10.1944 [6] und [7]

Seine Briefe aus der Haft an seine Frau sind überliefert. Sie enthalten allerdings nur alltägliche Gegebenheiten und zeugen vor allem von seiner Sehnsucht nach seiner Frau und seiner kleinen Tochter. Die Briefzensur machte es unmöglich, nähere Einzelheiten über das Lagerleben zu berichten

Heinrich Niemann als Soldat [8]
Heinrich Niemann als Soldat [8]

 

 

 

Am 10. November 1944 wurde er mit weiteren politischen Häftlingen zur zynischerweise „Bewährungs- oder Strafbataillon 999“ genannten SS-Sonderformation „Dirlewanger“ eingezogen und an die Ostfront verlegt, wo er in heftige Gefechte mit den Truppen der Sowjetunion verwickelt wurde.

Bescheinigung über Einberufung als Soldat [9]
Bescheinigung über Einberufung als Soldat [9]


Das Sonderkommando "Dirlewanger" wurde ab Mai 1940 aufgestellt und danach mehrmals umorganisiert, am 1.9.1940 zum Sonderbataillon, am 29.1.1942 zum SS-Sonderbataillon, Ende 1943/Anfang 1944 zum SS-Sonderregiment, im Juli 1944 zur SS-Sturmbrigade und schließlich am 19. 2.1945 zur 36. Waffen-Grenadier-Division der SS.

Ab dem 7. November 1944 trafen die ersten Kontingente von rekrutierten KZ-Häftlingen bei der SS-Grenadier-Ersatzkompanie Dirlewangers in Krakau ein und wurden kurze Zeit später nach Diviaky verlegt. Dort sollte der Aufbau der Sturmbrigade "Dirlewanger" erfolgen. Die politischen Häftlinge wurden fast allesamt dem III. Bataillon des neu aufzustellenden SS-Regiments 2, Sturmbrigade "Dirlewanger", zugeteilt. Einzelne politische Häftlinge wurden auch auf das II. Bataillon verteilt. Marie Niemann erhielt am 9.11.44, dem offiziellen Gedenktag für die "Gefallenen der Bewegung“, eine Postkarte aus Berlin-Charlottenburg. Am 24.11.44 bekam sie noch einen Feldpostbrief, in dem Heinrich Niemann bereits "Slowakei" als Ort angibt.

Feldpostbrief vom 14.11.1944 [10]
Feldpostbrief vom 14.11.1944 [10]
(mit Poststempel vom 24.11.1944) [11]
(mit Poststempel vom 24.11.1944) [11]

Gegen Ende November erfolgte dann die Verlegung des II. und III. Bataillons in den Raum Novaky/Slowakei. Ziel war es dabei, die Partisanen der Oberen Nitra mehr oder weniger zusammen zu treiben. Das III. Bataillon wurde per Bahn verlegt, wohingegen das II. Bataillon marschieren musste. Wer zurück blieb, wurde von den SS-Männern erschossen. Daran lässt sich eine unterschiedliche Behandlung erkennen. Denn im III. Bataillon blieben die Häftlingen eher unter sich und sprechen gar von einer halbwegs guten Behandlung. Im II. Bataillon fand eine zunehmende Verrohung statt; im Dezember 1944 fanden exemplarische Exekutionen an Bataillonsangehörigen statt.

Am 13.12.1944 kommen beide Bataillone in Ipolysag in Ungarn zum Einsatz und erhalten die Aufgabe, eine wichtige Ortschaft zu halten. Viele Häftlinge desertieren und laufen zu den Sowjettruppen über.
Ende Januar 1945 wird die Sonderformation "Dirlewanger" 
aus Prievidza nach Guben verlegt, wo sie am 12.2.1945 eintrifft. Zu dem Zeitpunkt sind die meisten Häftlinge des II. und III. Bataillons vermutlich bereits gefallen.

Heinrich Niemanns Feldpost vom 5. Dezember 1944 war sein letztes Lebenszeichen. Über sein weiteres Schicksal ist nichts bekannt. Es bleibt zu vermuten, dass er dort noch im selben Jahr wie zahlreiche Mitglieder dieser Einheit in Tschechien oder in Ungarn zu Tode gekommen ist. Seiner Witwe blieb die traurige Pflicht, ihn nach dem Krieg für tot erklären zu lassen, nachdem sie über 6 Jahre vergeblich auf seine Rückkehr gewartet hatte.
Als Zeitpunkt des Todes wurde vom Amtsgericht der 8. Dezember 1944 festgelegt.

Bildnachweise

[1] Fotoarchiv der Hansestadt Lübeck
[2] - [11] Foto und Dokumente aus Familienbesitz

Verzeichnis der Quellen außerhalb der Standardfachliteratur

  • Archiv der Hansestadt Lübeck

    • Ordnungsamt
    • Meldekartei-Archiv

  • Wiedergutmachungskammern

    • Entschädigungsakten des Sozialministeriums (Kreis-Sonderhilfsausschuss)
    • KSHA, Nr. 1664 NIEMANN, Marie.

  • Adressbücher der Hansestadt Lübeck
  • Schleswig-Holsteinisches Landesarchiv (LAS) Abteilung 357.3 (Strafanstalten-Lübeck)

    • LAS Abteilung Abteilung 761 (Kreissonderhilfsausschuss)

  • Archiv KZ-Gedenkstätte Neuengamme, Datenbank

    • Quellenart: Häftlingsliste, Laborjournal

  • Hans-Schwarz-Archiv
  • WHVA (Totenliste Hamburger Widerstandskämpfer und Verfolgter)
  • Wehrmachtsauskunftsstelle (WAST) Berlin Schreiben vom 22.09.2011
  • Zeitzeugengespräch mit seiner Tochter Frau Spahrmann, geb. Niemann, am Donnerstag, den 28. Juli 2011 in Lübeck
  • Persönliche Briefe an seine Frau aus der Haft in Neuengamme, Feldpostbriefe (Privatbesitz)

 

Christian Rathmer, 2012