• Deutsch
  • English

Charlottenstraße 26

In der Charlottenstraße 26 lebten von 1912 bis Anfang Dezember 1941 die drei Schwestern Emma, Minna und Clara Grünfeldt.

Ihre Wohnung befand sich in der zweiten Etage links und bestand aus “guter“ Stube, Esszimmer, Schlafzimmer und Küche sowie einem Mansardenzimmer ein Stockwerk höher als weiteren Schlafraum.

 

Haus Charlottenstraße 26; Foto Heidemarie Kugler-Weiemann, 2008
Haus Charlottenstraße 26; Foto Heidemarie Kugler-Weiemann, 2008

Emma Grünfeldt, am 8. September 1880 in Wismar geboren, arbeitete als Lehrerin in der nahegelegenen II. St. Jürgenschule (der späteren Kahlhorstschule) in der Kahlhorststraße 41.

Emma Grünfeldt mit Schulklasse 1933/34; Privatarchiv Dr. Peter Guttkuhn
Emma Grünfeldt mit Schulklasse 1933/34; Privatarchiv Dr. Peter Guttkuhn

Ihre vier Jahre ältere Schwester Minna war am 25. Oktober 1876 in Wismar zur Welt gekommen. Sie arbeitete viele Jahre als Telefonistin beim Lübecker Fernmeldeamt, dann als Schulsekretärin am Katharineum und später als Verkäuferin.

Minna Grünfeldt; Privatarchiv Dr. Peter Guttkuhn
Minna Grünfeldt; Privatarchiv Dr. Peter Guttkuhn

Den gemeinsamen Haushalt der Geschwister führte Clara, die am 25. Januar 1878 in Wismar geboren war.

Clara Grünfeldt; Privatarchiv Dr. Peter Guttkuhn
Clara Grünfeldt; Privatarchiv Dr. Peter Guttkuhn

Die “Grünfeldt, Geschwister, Charlottenstraße 26” - so der beständige Eintrag in den Lübecker Adressbüchern bis 1942 - lebten zurückgezogen, in gutbürgerlichen Verhältnissen, bescheiden und hilfsbereit in und mit ihrer überschaubaren Nachbarschaft.

Im Frühsommer 1893 war die Witwe Pauline Grünfeldt mit ihren Kindern von Wismar nach Lübeck gezogen, zwei Jahre nach dem Tod ihres Mannes, des Kaufmanns und Fabrikanten Bernhard Grünfeldt. Während die Mutter bis zu ihrem Tod im Jahre 1915 der jüdischen Gemeinde angehörte, lösten sich ihre Kinder vom jüdischen Glauben. Emma ließ sich wahrscheinlich 1897 evangelisch-lutherisch taufen, ihre ältere Schwester Minna folgte 1900. Clara Grünfeldt trat aus der jüdischen Gemeinde aus, blieb aber konfessionslos.

Der Wechsel zur evangelisch-lutherischen Kirche eröffnete Emma Gründfeldt überhaupt erst die berufliche Perspektive, Lehrerin zu werden, denn in Lübeck wurden nur Angehörige des lutherischen Bekenntnisses in den stattlichen Schuldienst aufgenommen. Jüdinnen war eine Einstellung an staatlichen Volksschulen grundsätzlich verwehrt, da sie keinen evangelischen Religionsunterricht erteilen durften. 1912 erhielt Emma Gründfeldt die Anstellung als beamtete Volksschullehrerin auf Lebenszeit. Dass sie, die praktizierende Christin, als Jüdin geboren worden war, das wusste in der Freien und Hansestadt Lübeck so gut wie niemand - war es doch auch ohne Interesse und Belang.

Dies änderte sich mit der Regierungsübernahme durch die Nationalsozialisten. Eine Entlassung aufgrund des “Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums “ im April 1933 konnte Emma Grünfeldt mit dem Hinweis, dass sie bereits vor 1914 in ein Beamtenverhältnis eingetreten sei, verhindern. Ende August 1935 wurde sie jedoch auf Initiative des Amtsleiters der Lübecker Kultusverwaltung, Regierungsdirektor Dr. Wolff (NSDAP), mit sofortiger Wirkung beurlaubt. Eine gesetzliche Grundlage lag zu diesem Zeitpunkt (noch) nicht vor. Zum 1. Januar 1936 - inzwischen waren die “Nürnberger Gesetze” in Kraft getreten, wurde sie in den dauernden Ruhestand versetzt.

Der berufliche und gesellschaftliche Abstieg, die Verschlechterung der sozialen Lage und die Diskriminierung durch fortlaufende administrative Maßnahmen führten zu einer zunehmenden privaten Isolation ohne Perspektive. Auch die bislang schweigende Kirchengemeinde gewährte Emma und Minna in ihrer seelischen Not weder Zuspruch noch Trost. Im Gegenteil: Der Pastor der Domgemeinde, der seit Januar 1936 in Lübeck amtierte und dessen Seelsorgebezirk die beiden Frauen angehörten, war Mitglied des besonders radikalen Flügels der Nationalkirchlichen Deutschen Christen (NDC) und ein ausgewiesener Antisemit, der später am Eisenacher “Institut zur Erforschung und Beseitigung des jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Leben” mitarbeitete.

Im letzten Quartal des Jahres 1938 mussten die Grünfeldts sich gegen eine Verwaltungsgebühr von drei Reichsmark die stigmatisierende J(uden)-Kennkarte auf dem Lübecker Polizeipräsidium beschaffen und den zusätzlichen Vornamen “Sara” annehmen.

Zwangsnamen - Emma und Clara Grünfeldt; Archiv der Hansestadt Lübeck
Zwangsnamen - Emma und Clara Grünfeldt; Archiv der Hansestadt Lübeck
Zwangsnamen - Minna Grünfeldt; Archiv der Hansestadt Lübeck
Zwangsnamen - Minna Grünfeldt; Archiv der Hansestadt Lübeck

Am 23. Februar 1939 erließ die deutschchristliche Kirchenleitung unter Führung des NS-Bischofs Erwin Balzer das “Gesetz über die kirchliche Stellung evangelischer Juden”, in dem es heißt: “Juden können nicht Glieder der evangelisch-lutherischen Kirche in Lübeck werden”. Kein Pastor sei ihnen gegenüber, “die vor dem Inkrafttreten des Gesetzes Glieder der evangelisch-lutherischen Kirche in Lübeck geworden sind”, zu Amtshandlungen verpflichtet; kirchliche Räume und Einrichtungen dürften nicht benutzt werden. Damit waren die letzten Hoffnungen und Illusionen, Beistand und Hilfe von ihrer Kirche zu bekommen, auch für Emma und Minna Grünfeldt hinfällig geworden.

Ebenso wie alle anderen noch in Lübeck verbliebenen jüdischen Familien mussten die Grünfeldts ihre laufend gekürzten Lebensmittelkarten und Textilien-Bezugsscheine seit Mitte September 1939 in einer speziellen Ausgabestelle der Sozialverwaltung, Abteilung Anstalten und Werkstätten, St. Annen-Straße 1-3 beantragen, abholen und einlösen. Weil Juden “arische” Geschäfte nicht betreten durften, wurden die ihnen noch zugestandenen Artikel seitdem durch das Wohlfahrtsamt der Stadt erworben und in dessen Warenbeschaffungsstelle kontrolliert an sie verkauft.

Am 24. Oktober 1941 ging auf dem Lübecker Polizeipräsidium ein Schreiben mit folgendem Wortlaut ein:

“In meiner Eigenschaft als Zellenleiter der NSDAP-Ortsgruppe St. Jürgen ist mir mitgeteilt worden, daß die Juden, 3 Geschwister Grünfeldt, wohnhaft Charlottenstraße 26, den Davidstern nicht bzw. Nicht sichtbar tragen, indem sie ihn durch ihre Pelzkragen zum größten Teil verdecken. Gleichfalls dürfte sich empfehlen, einmal die Lebensmittelkarten dieser Jüdinnen zu prüfen, ob sie zu ihren Vornamen auch den Zusatznamen “Sara” führen, da anzunehmen ist, daß sie diesen Namen bei ihrer echt jüdischen Unverfrorenheit ebenfalls nicht führen.  A. Wulff, Pol.Inspektor”.

Alfred Wulff (1889 -1961) lebte seit vielen Jahren als Nachbar der Grünfeldts in derselben Straße. Ihm gehörte das Haus Haus Charlottenstraße 25, schräg gegenüber; er bewohnte die erste Etage. Man kannte sich. Wulff war im Polizeipräsidium - seit 1933 mehrfach befördert - als Sachbearbeiter tätig. Er leitete seine verleumderische Anzeige gegen die Nachbarinnen an die zuständige Abteilung II1 im Präsidium und richtete an das 5. Polizeirevier in der Vorstadt St. Jürgen, Ratzeburger Allee 1, ein Ersuchen um Anstellung entsprechender Ermittlungen und Überwachung. Sollten die Vorwürfe zutreffen, sei eine Strafanzeige vorzulegen. (Archiv der Hansestadt Lübeck, Polizeiverwaltung 120).

Der ermittelnde Meister der Schutzpolizei, Johann Feudel, erstattete am 4. Dezember 1941 einen Zwischenbericht: Die Grünfeldts trügen den ordnungsgemäß aufgenähten gelben Judenstern auf der linken Brustseite ihrer Mäntel, seien auch damit in der Stadt angetroffen worden. Kleiderkarten besäßen sie nicht. “Die Lebensmittelkarten wurden überprüft. Sie wurden hierbei von mir dahin belehrt, daß sie auf den Lebensmittelkarten den zusätzlichen Vornamen “Sara” nicht fortlassen dürfen. Eine weitere Überwachung wird fortgesetzt”.

Währenddessen hatten die drei Schwestern von der Lübecker Geheimen Staatspolizei (Gestapo) einen Evakuierungsbefehl zum Arbeitseinsatz in den Osten, wie es hieß, erhalten. Mitzunehmen erlaubt waren bis zu 50 kg Gepäck pro Person. Doch die Grünfeldts, mittlerweile zwischen 61 und 65 Jahre alt, waren körperlich nicht in der Lage, mehr als das Allernötigste mitzunehmen. Zudem hatte sich Clara einige Tage vor der Deportation aus Verzweiflung die Pulsadern geöffnet. Der zuerst gerufene Arzt weigerte sich zu kommen, der zweite versorgte sie notdürftig. Zuvor waren Polizei- und Gestapo-Beamte in der Wohnung erschienen, um ihre Einrichtungsgegenstände zu registrieren und deren Veräußerung oder Beschädigung zu verbieten.

Stundenlang warteten die Grünfeldts am Abend des 5. Dezember auf ihren Abtransport ins Sammellager, wozu die Lübecker Gestapo das (noch) der jüdischen Gemeinde gehörende “Asyl-Heim” (Wohn- und Altenheim) , St. Annen-Straße Nr.11, bestimmt hatte. Stumm und apathisch saßen sie auf den Treppen im engen, kalten und dunklen Flur im Parterre ihres Hauses, um befehlsgemäß den Polizei- und Gestapo-Leuten die Wohnungsschlüssel zu übergeben, damit diese einige Tage die Wohnungseinrichtung abholen konnten. Was sie nicht selbst verwenden konnten, wurde dem Finanzamt Lübeck zur Versteigerung übergeben.

Am 6. Dezember 1941 bestiegen gegen zehn Uhr ca. 92 im Hause St.Annen-Straße 11 versammelte Lübeckerinnen und Lübecker zwei große städtische Omnisbusse, um zum Hauptbahnhof gefahren zu werden. Ihr Gepäck folgte auf LKWs. In Bad Oldesloe wurden die Waggons aus Lübeck - zusammen mit 42 aus Kiel, Rendsburg, Ratzeburg und Ahrensburg deportierten Juden - an den vierten aus Hamburg kommenden Transport mit 753 Personen angeschlossen, der ins “Reichskommissariat Ostland” unter vorherrschend schleswig-holsteinischer Zivilverwaltung geschickt werden sollte.

Nach drei Tagen und Nächten endete die Fahrt mit der Deutschen Reichsbahn auf einem Abstellgleis des Bahnhofes Skirotova im Südosten von Riga. Die verängstigten und erschöpften Menschen, die nicht wussten, wo sie waren und was sie erwartete, zwangen deutsche und lettische SS-Männer bei Schnee und Kälte zu einem ca. drei Kilometer langen Fußmarsch in ein so genanntes Auffanglager. Es hieß “Jungfernhof” (Jumpravmuiza) und war ein großes ehemaliges Gut, das während der Zeit sowjetischer Besetzung Lettlands zu einem Flugplatz ausgebaut worden war.

Auf dem umfänglichen Areal, das mit seinem Westteil direkt an die Düna (Daugava) grenzte, befanden sich neben dem Herrenhaus und einigen kleinen Deputathäusern mehrere große alte Scheunen und Stallungen, die von der deutschen Zivilverwaltung als Männer- bzw. Frauenbaracken verwendet wurden. Zwischen 6.000 und 8.000 Menschen hatte man - nachdem ihnen sämtliche Dokumente und Gepäckstücke abgeneommen worden waren - in dieses Konzentrationslager zusammengetrieben; sie hausten auf sechs- bis siebenstöckigen, engen und schmalen Etagen-Holzlagern. Durch die verfallenen Dächer drangen Schnee und Kälte. Bei geringer Verpflegung, unzureichenden sanitären Einrichtungen und nur einer Wasserpumpe gestaltete sich die Lage der gefangengehaltenen Menschen täglich bedrohlicher.

Der außergewöhnlich harte osteuropäische Winter mit seinem wochenlangen Dauerfrost zwischen -25° und -35° C und die mörderischen Schikanen der SS-Wächter bewirkten eine hohe Todesrate. Richard J. Yashek / Jürgen Jaschek, einer der wenigen Überlebenden aus Lübeck bzw. Bad Schwartau, schätzte, dass im KZ Jungfernhof von Dezember 1941 bis März 1942 etwa 800 Menschen allein an Hunger, Kälte und Krankheiten starben. Da der Erdboden metertief gefroren war, stapelte man die Leichen zu hohen Bergen.

Im Februar 1942 wurden etwa tausend Kinder, Frauen und Kranke mit Lastwagen in den Bikerniekiwald transportiert und dort erschossen. Eine zweite solche Mordaktion fand am 26. März 1942 statt. Der Kommandant des Rigaer Gettos, Karl Wilhelm Krause, ließ sowohl über das Verwaltungsbüro von Jungfernhof als auch in allen anderen Lagern rund um Riga verbreiten, dass geschwächte und ältere Menschen sich für leichte Arbeiten in einer _ frei erfundenen - Konservenfabrik Dünamünde (Daugavgriva) melden sollten, Kranke kämen ins Rigaer Getto. Etwa 5.000 Personen - zumeist Frauen und Männer über 50 Jahre - meldeten sich, wurden im Halbstunden-Rhyhmus auf LKWs geladen und im nahen Wald von Bikernieki (Bickern) erschossen. Spätestens dieser Mordaktion fielen wahrscheinlich meisten Lübecker und auch die drei Schwestern Grünfeldt zum Opfer.

Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurde auf den drei Einwohner-Karteikarten “Grünfeldt” des Lübecker Ordnungsamts eingetragen: “Nach unbekannt von Amts wegen abgemeldet. Evakuiert. Am 6. Dezember 1941.”  Die erste und bislang letzte amtliche Reaktion ihrer Heimatstadt auf die todbringende Deportation.

Dr. Peter Guttkuhn, 2008

Verzeichnis der Quellen außerhalb der Standardfachliteratur:

  • Adressbücher und Meldekartei der Hansestadt Lübeck
  • Archiv der Hansestadt Lübeck, Personenstandsregister der Israelitischen Gemeinde zu Lübeck; Oberschulbehörde: Personalakte Emma Grünfeldt; Staatliche Polizeiverwaltung 109, 110, 120, 124; Protokolle der Beigeordneten-Besprechungen 1939
  • Buch der Erinnerung, Die ins Baltikum deportierten deutschen, österreichischen und tschechoslowakischen Juden, bearbeitet von Wolfgang Scheffler und Diana Schulle, München 2003
  • Peter Guttkuhn, Kleine deutsch-jüdische Geschichte in Lübeck, Von den Anfängen bis zur Gegenwart, Lübeck 2004
  • Josef Katz, Erinnerungen eines Überlebenden, Kiel 1988
  • Ingaburgh Klatt, “...dahin wie ein Schatten”, Aspekte jüdischen Lebens in Lübeck, Lübeck 1993
  • Memorbuch zum Gedenken an die jüdischen, in der Schoa umgekommenen Schleswig-Holsteiner und Schleswig-Holsteinerinnen, hrsg. V. Miriam Gillis-Carlebach, Hamburg 1996
  • Albrecht Schreiber, Zwischen Davidstern und Doppeladler, Illustrierte Chronik der Juden in Moisling und Lübeck, Lübeck 1992
  • Yad Vashem, The Central Database of Shoah Victims’ Names
  • Richard J. Yashek, Jürgen Jaschek, Die Geschichte meines Lebens, Wie ein zwölfjähriger jüdischer Junge aus Lübeck und Bad Schwartau die Konzentrationslager überlebte, deutsche Ausgabe Lübeck 1998, herausgegeben von der Geschwister-Prenski-Schule, Integrierte Gesamtschule Lübeck
  • Zeitzeugengespräche

Ausführliche Informationen über die Schwestern Grünfeldt finden sich in der Broschüre von Dr. Peter Guttkuhn, Die Lübecker Geschwister Grünfeldt, Vom Leben, Leiden und Sterben “nichtarischer” Christinnen, Lübeck 2001, herausgegeben vom Kirchenkreis Lübeck der Nordelbischen Ev.-Luth. Kirche