• Deutsch
  • English

Bei St. Johannis 4 wohnte die Familie Selmanson

Salomon Selman Selmanson war der zweitälteste Sohn einer großen Familie aus Berditschew in der Ukraine, die 1904 nach Lübeck kam. Er wurde am 11.3.1886 geboren, seine Frau Rebecca, geborene Barsam, am 23.2.1892  ebenfalls in Berditschew. Ihre Hochzeit fand am 18.7.1913 in London statt. Beide galten als staatenlos, auch ihre fünf Kinder, die alle in Lübeck geboren wurden: Simmy Chaya am 1.5.1914, Ephraim David am 15.10.1917, Siegmund am 21.4.1919, Esther Berta am 6.1.1921 und Heinz am 3.1.1926. 

Haus Bei St. Johannis 4; Foto: Heidemarie Kugler-Weiemann, 2008
Haus Bei St. Johannis 4; Foto: Heidemarie Kugler-Weiemann, 2008

Ab 1918 bewohnte die Familie das kleine Haus Bei St. Johannis 4, in dem die Eltern eine "Zigarettenfabrik und Papierhandlung" betrieben, welche zeitweise noch ein Filialgeschäft am Falkenplatz 2 hatte. Ab 1920 waren Selmansons Eigentümer des Hauses.

Ihre Verwandten hatten nach mehrfachen Umzügen während der ersten Jahre in Lübeck seit 1915 ihre Wohnung in der Kapitelstraße 7. Salomon Selman Salomons Vater, der Händler und Zigarettenmachergeselle Josef Selmanson, war am 15.11.1856 in Berditschew geboren und starb am 30.9.1931 in Lübeck. In erster Ehe war er verheiratet mit Riskah, geborene Radowinkle, nach ihrem Tod in zweiter Ehe mit Rebecka, geborene Arinowitsch. Sie war am 20.5.1870 geboren und starb am 24.1.1926 in Lübeck. Ihr Grab befindet sich auf dem jüdischen Friedhof in Moisling. Aus erster und zweiter Ehe hatte Josef Selmanson elf Kinder, die drei jüngsten kamen in Lübeck zur Welt. Doch außer dem zweitältesten Sohn Salomon Selman mit seiner Familie blieb nur eine weitere Tochter in Lübeck wohnen. Mischka / Mischna Selmanson, am 1.1.1902 in Berditschew geboren, wurde Schneiderin und hatte ihre Werkstatt in der Kapitelstraße 7a.

Rebecca und Salomon Selman Selmanson schickten ihre fünf Kinder alle zunächst auf die Gemeinschaftsschule am Domkirchhof, eine Reformschule mit Koedukation und konfessionsübergreifendem Religions- und Ethikunterricht, die großen Wert auf handwerkliche Ausbildung und Förderung der Gemeinschaft legte.

Die beiden älteren Söhne Ephraim und Siegmund besuchten später das Johanneum, gleich gegenüber vom Elternhaus gelegen. Nach der zehnten Klasse wechselte Ephraim auf die Oberrealschule zum Dom, begann dann aber wie sein Bruder eine kaufmännische Ausbildung. Simmy besuchte später die Mädchen-Mittelschule und arbeitete nach der Schulzeit im Kaufhaus Noah Honig in der Hüxstraße 110 an der Kasse.

 

Esther und Heinz gingen ab 1934 auf die Jüdische Volksschule in der St. Annen - Straße, die Gemeinschaftsschule war von den Nationalsozialisten geschlossen worden.

Jüdische Religionsschule Lübeck, 1935
Jüdische Religionsschule Lübeck, 1935

Der Schrecken der Ausgrenzung begann für die zwölfjährige Esther damit, dass ihre beste Freundin nicht mehr mit ihr befreundet sein durfte. Es war die Tochter des damaligen Hausmeisters vom Johanneum, der berufliche Schwierigkeiten erwartete, wenn sein Kind weiter mit dem "Judenmädchen" Kontakt hätte.

Nach ihrer Schulzeit zog Esther nach Hamburg, wo sie im Paulinenstift am Laufgraben 37, dem jüdischen Waisenhaus, die Haushaltungsschule besuchte. Nach dieser Ausbildung arbeitete sie im Haushalt des jüdischen Ehepaares Rubens in der Wakenitzstraße.

Eine Zeitungsmeldung vom 7.9.1935 wirft ein weiteres Schlaglicht auf die Probleme der Familie: "Jüdische Zigarettenfabrik wegen Unsauberkeit geschlossen ". Auch der Laden wurde geschlossen, und damit war der Familie die Existenzgrundlage genommen.

Am 9. November 1938 wurden Ephraim und Siegmund verhaftet und ins KZ Sachsenhausen gebracht. Sie konnten Anfang März 1939 nach Shanghai flüchten, wo Ephraim im März 1943 verstarb.

Simmy und Esther konnten im Mai 1939 nach England auswandern.

Esther, Heinz und Simmy Selmanson 1939, Foto der Familie
Esther, Heinz und Simmy Selmanson 1939, Foto der Familie

Die Handwerkskammer Lübeck löschte zum 31. Dezember 1938 den Namen von Mischka Selmanson aus der Handwerksrolle, so dass auch sie ihre berufliche Existenz verlor. Mit ihrem Ehemann Erich Simonsohn konnte sie nach Australien flüchten.

Die schwerkranke Rebekka Selmanson starb am 1. November 1940 im Israelitischen Krankenhaus in Hamburg und wurde auf dem Jüdischen Friedhof in Hamburg Ohlsdorf beerdigt. Einen Grabstein gibt es nicht.

Zu diesem Zeitpunkt hatte die Familie das Häuschen hier bereits aufgeben müssen. Salomon Selmanson fand mit seinem Sohn Heinz Unterschlupf in der St. Annen Straße 7, einem Gebäude der Jüdischen Gemeinde.

Ab April 1940 besuchte Heinz für etwa ein Jahr die Schlosserlehrwerkstätten für jüdische Jugendliche in Hamburg.

Vater und Sohn wurden am 6. Dezember 1941 nach Riga deportiert und kamen ums Leben. Der genaue Zeitpunkt ist nicht bekannt.

Gedenkblatt für Salomon Selmanson: Gedenkstätte bei Jerusalem
Gedenkblatt für Salomon Selmanson: Gedenkstätte bei Jerusalem

Die Gedenkblätter in Yad Vashem für Salomon Selmanson und Heinz füllte  Esther Mace, geb. Selmanson mit ihrer Adresse in England aus.

Dadurch konnte Heidemarie Kugler-Weiemann Kontakt zu ihr aufnehmen und sie im Sommer 2005 besuchen.

Esther Mace, geborene Selmanson, mit ihrem Sohn Stanley und seiner Frau, Gloucester 2005, Foto: Heidemarie Kugler-Weiemann
Esther Mace, geborene Selmanson, mit ihrem Sohn Stanley und seiner Frau, Gloucester 2005, Foto: Heidemarie Kugler-Weiemann

Im November 2006 ist Esther Mace gestorben: Ihr Sohn Stanley schrieb vor der Verlegung der Stolpersteine für seine Angehörigen, die er niemals hatte kennenlernen dürfen:

"Until your letter, I had never heard about the Stolpersteine. I am most interested to hear that you belong to a group of people who want to realize Stolpersteine in Lubeck and wish you all success. I agree to you putting stones for my Grandfather and Heinz. Who knows, maybe I shall stumble across this in the future? "

(11. Juni 2007)

Verzeichnis der Quellen außerhalb der Standardfachliteratur:

  • Adressbücher und Meldekartei der Hansestadt Lübeck
  • Archiv der Hansestadt Lübeck, Staatliche Polizeiverwaltung 109, 110, 124, 126,
  • Schulen, Gemeinschaftsschule 3, Johanneum 216 und 221,
  • Schriftwechsel Meike Kruse mit Susan Turpin, Kanada
  • Briefwechsel mit Esther und Stanley Mace, Gloucester, England und Susan Turpin, Ontario, Kanada seit 2004
  • Buch der Erinnerung, Die ins Baltikum deportierten deutschen, österreichischen und tschechoslowakischen Juden, bearbeitet von Wolfgang Scheffler und Diana Schulle, München 2003
  • Datenpool JSHD der Forschungsstelle "Juden in Schleswig-Holstein" an der Universität Flensburg
  • Friedhofsregister des Jüdischen Friedhofs in Hamburg-Ohlsdorf
  • Landgericht Hamburg vom 29.12.1951, (50) 14/50. Lfd. Nr. 307: NS-Gewaltverbrechen in Lagern / Riga Lettland
  • Memorbuch zum Gedenken an die jüdischen, in der Schoa umgekommenen Schleswig-Holsteiner und Schleswig-Holsteinerinnen, hrsg. V. Miriam Gillis-Carlebach, Hamburg 1996
  • Albrecht Schreiber, Zwischen Davidstern und Doppeladler, Illustrierte Chronik der Juden in Moisling und Lübeck, Lübeck 1992
  • Staatsarchiv Hamburg  362-6/10 Talmud Tora
  • Yad Vashem, The Central Database of Shoah Victims Names
  • Zeitungsmeldung KNN vom 7.9.1935
  • Zeitzeugengespräch mit Esther Mace, geborene Selmanson, August 2005

Heidemarie Kugler-Weiemann, 2008