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In der Beckergrube 90 wohnte die Familie Schachtel.

Im Jahre 1919 waren die Brüder Jacob und Michaelis Schachtel aus dem polnischen Znin (zwischen Bromberg und Posen gelegen) nach Lübeck eingewandert und eingebürgert worden, zusammen mit ihren Frauen, den Schwestern Selma und Martha Rawicz, die aus Rogasen/Rogasno westlich von Znin stammten.

Jacob Schachtel war am 23.2.1878 in Znin geboren, er war Händler und Schuhmachermeister. Seine Frau Selma wurde am 16.6.1882 in Rogasen geboren.

Michaelis Schachtel war am 21.2.1880 in Znin geboren und wurde Kaufmann und Lederhändler. Der Geburtstag seiner Frau Martha war der 14.7.1885. Das Ehepaar hatte eine Tochter, Gerda kam am 27.12. 1911 in Znin zur Welt

Haus Beckergrube 90 im Jahre 2008, Foto: Heidemarie Kugler-Weiemann
Haus Beckergrube 90 im Jahre 2008, Foto: Heidemarie Kugler-Weiemann

In Lübeck erwarb die Familie 1919 das Haus Beckergrube 90. Der damals 39 jährige Michaelis Schachtel führte im Erdgeschoss seine Lederhandlung und wohnte mit Frau und Tochter in der 1. Etage. Sein Bruder wohnte mit seiner Frau im 2. Stockwerk, dessen Geschäft, eine Lederhandlung und Schuhmacherbedarfshandlung, befand sich in der Hüxstraße 60.

Im Lübecker Adressbuch ist noch 1942 Michaelis Schachtel in der Beckergrube 90 verzeichnet, während das Geschäft in der Hüxstraße ab 1936 nicht mehr aufgeführt wird.

In jenem Jahr 1936 konnte Gerda Schachtel nach Palästina auswandern; die dortige Einbürgerung führte zum Verlust der deutschen Staatsangehörigkeit. Vorherige Aufenthalte in Freiburg, Berlin und Holland dienten vermutlich der Vorbereitung auf die Einwanderung nach Palästina.

Ihre Eltern sowie deren Geschwister müssen sich gleichfalls um eine Auswanderungsmöglichkeit nach England bemüht haben, darauf deutet ein knapper Hinweis in den Briefen von Bertha und Dora Lexandrowitz. Am 21. August 1939 schreiben diese beiden Schwestern aus Lübeck an ihre Verwandten in Shanghai über die verzweifelten Ausreisebemühungen verschiedener Lübecker Familien. "Schachtels warten auch sehr darauf!" (S. 61) Gemeint ist das Permit, d.h. die Erlaubnis des britischen Innenministeriums in London zur Ausübung des Berufs in Großbritannien. Der Kriegsbeginn am 1. September 39 dürfte allen Hoffnungen auf eine Fluchtmöglichkeit ein Ende bereitet haben.

Am 1. November 1940 berichtete Dora Lexandrowitz, die mittlerweile in Hamburg lebte, ihren Angehörigen: "Heute war ich in Lübeck, um bei Schachtels einen Trauerbesuch zu machen, da Jacob Sch. gestorben ist. " (S.112) Jacob Schachtel war am 25.10.1940 im Alter von 62 Jahren verstorben.

Mit dieser Erklärung nahmen Martha und Michaelis Schachtel die verordneten Zwangsnamen an
Mit dieser Erklärung nahmen Martha und Michaelis Schachtel die verordneten Zwangsnamen an

Bereits zwei Jahre vorher, im Dezember 1938, hatten die  Schachtels ihr Geschäft schließen müssen und damit ihre Existenzgrundlage verloren. Von der "Ausschaltung der Juden aus dem deutschen Wirtschaftsleben und Arisierung von Geschäften und Firmen " berichtet eine Akte der staatlichen Polizeiverwaltung im Archiv der Hansestadt Lübeck (126): Nach Anweisung vom 3. Dezember 1938 waren Geschäfte zu schließen, deren Inhaber Juden mit deutscher Staatsangehörigkeit oder staatenlos waren. Am 6. Dezember 38 kamen Vertreter der Polizei, der Industrie- und Handelskammer, Wirtschaftsgruppe Einzelhandel, sowie der Kreiswirtschaftsberater in der Königstraße 9 zu einer Bestandsaufnahme und Besprechung zusammen. Im Protokoll ihrer Sitzung heißt es noch: "Schachtel, Michaelis, Lederhandlung, Beckergrube 90 (die Verkaufsstelle ist noch geöffnet.)". Ein Bericht der Schutzpolizei vom 13. Dezember 1938 sagt nach einer Überprüfung: "Der Jude Schachtel, Beckergrube 90, hat seine gesamte Ware verpackt und will sie dem Ledergroßhandelsverband übergeben. Er hat sein Geschäft seit der Zertrümmerung der Fensterscheiben noch nicht wieder geöffnet gehabt. Dieses wurde auch von Leuten, die in der Nachbarschaft wohnen, bestätigt.".

Am 5. Januar 1939 schließlich meldete ein Kommando der Schutzpolizei nach einer erneuten Überprüfung, dass die Schließung des Geschäftes durchgeführt sei (Polizeiverwaltung 129).

Laut Meldekartei wurde Michaelis Schachtel in dieser Zeit außerdem "wegen Zuwiderhandlung gem. §69 Abs.1 Ziffer 7 des Devisengesetzes v. 12.12.38 zu einer Geldstrafe von 350,- verurteilt. Über die Vermögenswerte ist gem. §52 des Devisengesetzes Sicherungsanordnung erlassen".

In den Akten der Polizei findet sich noch ein weiterer Hinweis auf die Familie Schachtel: ein anonymer handschriftlicher Brief "eines Volksgenossen " an die Polizeiverwaltung Lübeck mit Eingangsstempel vom 16. 9. 1941. "Der Jude Schachtel in der Beckergrube, sowie seine beiden Weiber, tragen nicht das Abzeichen, bewohnen eine 4 ½ Zimmerwohnung, während unsere Volksgenossen sich mit 1+2 Zimmern begnügen müssen. " Auch dieser üblen Denunziation wird nachgegangen, allerdings sagt der Vermerk vom 30. Sept. 1941 "Kontrolle negativ " (Archiv der Hansestadt Lübeck, Staatliche Polizeiverwaltung 120).

Zu diesem Zeitpunkt oder wenig später dürfte der sog. Evakuierungsbefehl in der Beckergrube 90 eingegangen sein. Michaelis Schachtel war 61 Jahre alt, seine Frau 56 Jahre und ihre Schwester 59 Jahre, als sie nach Riga auf den Jungfernhof deportiert wurden. Es ist nicht bekannt, wann und unter welchen Umständen sie ums Leben kamen. Alle drei wurden 1950 vom Amtsgericht Lübeck für tot erklärt.

In der Entschädigungsakte der Tochter Gerda Schachtel heißt es:
"Das Hausgrundstück in der Beckergrube und die Leder- und Schuhmacherwaren wurden beschlagnahmt. Auch die Wohnungseinrichtung beschlagnahmte die Gestapo, das Finanzamt Lübeck veräußerte die Gegenstände." -LAS Wg. 352/ Kiel Nr. 07333

Verzeichnis der Quellen außerhalb der Standardfachliteratur:

  • Adressbücher und Meldekartei der Hansestadt Lübeck
  • Archiv der Hansestadt Lübeck, Staatliche Polizeiverwaltung 109, 110, 120, 126, 129
  • Buch der Erinnerung, Die ins Baltikum deportierten deutschen, österreichischen und tschechoslowakischen Juden, bearbeitet von Wolfgang Scheffler und Diana Schulle, München 2003
  • Datenpool JSHD der Forschungsstelle "Juden in Schleswig-Holstein" an der Universität Flensburg
  • Kugler-Weiemann, Heidemarie / Peperkorn, Hella (Hrsg.): "Hoffentlich klappt alles zum Guten ", Die Briefe der jüdischen Schwestern Bertha und Dora Lexandrowitz (1939 - 1941 ), Neumünster 2000
  • Memorbuch zum Gedenken an die jüdischen, in der Schoa umgekommenen Schleswig-Holsteiner und Schleswig-Holsteinerinnen, hrsg. V. Miriam Gillis-Carlebach, Hamburg 1996
  • Yad Vashem, The Central Database of Shoah Victims Names

Heidemarie Kugler-Weiemann, 2008