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Dina Schneider - An der Falkenwiese 22

An der Falkenwiese 22 war mehr als zwanzig Jahre lang das Zuhause von Dina Schneider, geborene Hirschhorn. 1920 bezog sie mit ihrem Ehemann Ferdinand Schneider eine Wohnung im 3. Stock und lebte dort bis zu ihrer Verhaftung im Sommer 1941.

Eckhaus An der Falkenwiese 22 / Wakenitzufer 2014, Heidemarie Kugler-Weiemann
Eckhaus An der Falkenwiese 22 / Wakenitzufer 2014, Heidemarie Kugler-Weiemann
Eckhaus An der Falkenwiese 22 / Wakenitzufer 2014, Heidemarie Kugler-Weiemann
Eckhaus An der Falkenwiese 22 / Wakenitzufer 2014, Heidemarie Kugler-Weiemann


Dina Schneider war am 10. Juli 1884 in Bonn-Beuel geboren als Tochter von Leopold Hirschhorn und Henrietta Hirschhorn, geborene Rosenberg. Mit ihren drei Geschwistern Siegfried Samuel, Hermann und Selma dürfte sie in Beuel aufgewachsen sein und dort die Schule besucht haben. Ob sie auch ihre Ausbildung im Einzelhandel dort gemacht und wie sie ihren späteren Ehemann kennen gelernt hatte, ist nicht bekannt.

Ferdinand Schneider war am 10.10. 1889 in Augsburg geboren, besaß damit die bayrische Staatsangehörigkeit und war kein Jude. Ab 1907 war der Maschinenmeister in Lübeck gemeldet. Seine Religionszugehörigkeit gab er mit atheistisch an.

Am 25.10.1916 fand die Hochzeit von Ferdinand und Dina Schneider statt. Ob die Angehörigen der damals 32 jährigen Jüdin zur Eheschließung mit einem deutlich jüngeren Mann, der kein Jude war, gekommen sind? Wir wissen nicht, mit welchen Widerständen gegen ihre „Mischehe“ das Paar zu kämpfen hatte.

Ferdinand Schneider arbeitete als Rotationsdrucker und Maschinenmeister beim Lübecker Generalanzeiger, Dina war Filialleiterin des Schuhgeschäftes „Romeo“ in Lübeck. Kinder bekam das Ehepaar nicht. Von 1920 an lebten die beiden in ihrer Wohnung am Ufer der Wakenitz mit einem wunderschönen Ausblick. Ihre Wege zur Arbeit dürften sie täglich zu Fuß zurückgelegt haben. Sicherlich haben sie Spaziergänge in dieser schönen Umgebung genossen, kannten den idyllischen Schulgarten, gingen möglicherweise gern zum Schwimmen in die Badeanstalt und besaßen vielleicht sogar ein kleines Boot.

Mit dem Beginn der Naziherrschaft werden sie nicht mehr sorglos gelebt haben. Wie alle „arischen“ Ehepartner in „Mischehen“ dürfte auch Ferdinand Schneider unter erheblichem Druck gestanden haben, sich von seiner jüdischen Frau loszusagen. Doch er hielt zu ihr. Dina Schneider verlor ihre Stellung im Schuhgeschäft. Das Ehepaar begann darüber nachzudenken, Deutschland zu verlassen und nach Holland zu flüchten, Pläne, die mit Beginn des Krieges 1939 hinfällig wurden.

Am 21. Juni 1941 wurde Dina Schneider von Kriminalsekretär Müller von der Lübecker Kriminalpolizei in ihrer Wohnung festgenommen. Ihre unmittelbare Nachbarin im dritten Stock des Hauses hatte bemerkt, dass Leinenbündel in die Wohnung der Schneiders getragen worden waren, Wäsche und Stoffe sowie möglicherweise weitere Wertsachen, die Dina Schneider für eine befreundete jüdische Familie in Verwahrung genommen hatte. Frau Bahrdt, die Ehefrau des Blockwartes, hatte daraufhin Anzeige erstattet. So wurde Dina Schneider wegen des Verdachts der Hehlerei und eines Vergehens gegen die Kriegswirtschaftsverordnung ins Polizeirevier gebracht, dort eingehend verhört und um 13.40 Uhr  von Hauptwachmeister Clausen in das Untersuchungs- und Marstallgefängnis eingeliefert.

In der Gefangenenakte findet sich folgende Beschreibung von Dina Schneider:
„ Augen: braun
Kinn: rund / breit
Gestalt: mittel / kräftig
Gesicht: rund
Nase: breit
Mund: langg.
Zähne: gesund
Haar: schwarz
Stirn: niedrig
Ohren: groß
Sprache: deutsch
Besondere Kennzeichen: Blinddarmnarbe.“

Nach drei Tagen in Untersuchungshaft wurde Dina Schneider am 24. Juni 1941 um 14.50 Uhr nach Hause entlassen. Doch bereits am folgenden Tag wurde sie erneut verhaftet, dieses Mal von Beamten der Gestapo. Bis zum 15. August 1941 blieb sie im Lübecker Gefängnis Lauerhof in „Schutzhaft“.
In den etwa sieben Wochen konnte Ferdinand Schneider seine Frau drei Mal für jeweils zehn Minuten besuchen, am 8. Juli, 10. Juli und am 1. August.

Am 15. August 1941 wurde Dina Schneider unter dem Vorwurf „politischer Zersetzung“ in das Frauenkonzentrationslager Ravensbrück abtransportiert.

Aus dem SS-Fotoalbum, Teilansicht des Barackenlagers vom Dach der Kommandantur gesehen, 1940/41 Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück / Stiftung Brandenburgische Gedenkstätte
Aus dem SS-Fotoalbum, Teilansicht des Barackenlagers vom Dach der Kommandantur gesehen, 1940/41 Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück / Stiftung Brandenburgische Gedenkstätte

Ferdinand Schneider wohnte weiter in der Wohnung An der Falkenwiese 22, Tür an Tür mit den Leuten, die seine Frau denunziert hatten. Etwa ein Jahr nach der Festnahme seiner Frau wurde er zur Gestapo vorgeladen und erfuhr, dass sie verstorben sei, angeblich an einer Grippe.

Tatsächlich wurde Dina Schneider nach mehreren qualvollen Monaten im Frauenkonzentrationslager Ravensbrück am 12. April 1942 in Bernburg an der Saale in einer Gaskammer ermordet. 58 Jahre war sie alt. Für die Mordaktion 14 f 13 in Bernburg wurden neben kranken vor allem jüdische KZ-Häftlinge aus Ravensbrück und anderen Konzentrationslagern ausgesucht. Diese erste planmäßige Mordaktion im Februar und März 1942 in Bernburg wurde verschleiert durch falsche Angaben zu Todesdaten, Todesursachen und angeblichen Bestattungen. So bleibt auch der Zweifel am Todesdatum von Dina Schneider. Dokumente des KZ Ravensbrück wurden im April 1945 von der SS weitestgehend vernichtet, auch das dort geführte Sterbebuch und andere Register.

Ferdinand Schneider zog im Oktober 1942 aus dem Haus An der Falkenwiese 22 aus und wohnte dann in der Hüxtertorallee. Am 4. November 1942 heiratete er erneut. Mit seiner zweiten Ehefrau Helene wohnte er noch bis 1958 in der Lachswehrallee. Verzweifelt kämpfte er nach dem Krieg darum, eine Entschädigung zu erhalten, hatte er doch im Jahr 1944 nach annähernd 40 Jahren seine Stelle als Maschinenmeister beim Lübecker Generalanzeiger aus nichtigem Anlass verloren. Einen Zusammenhang zwischen seiner fristlosen Entlassung und der rassischen Verfolgung mochte das Gericht jedoch nicht erkennen, da seine jüdische Ehefrau bereits früher umgekommen war.  Ende 1958 verließen Ferdinand und Helene Schneider die Hansestadt Lübeck und zogen um nach Kiel.

Auch Dina Schneiders Brüder wurden Opfer der Shoa. Ihr Bruder Hermann Hirschhorn (Jahrgang 1877) wurde aus der Heil- und Pflegeanstalt Bendorf-Sayn am 15. Juni 1942 in das Vernichtungslager Sobibor abtransportiert.
Ihr Bruder Samuel Siegfried Hirschhorn (Jahrgang 1881) lebte in Berlin und wurde am 28. März 1942 in das Ghetto Piaski bei Lublin deportiert, wo sich seine Spur verliert. Vermutlich wurde auch er in Sobibor ermordet. Über das Schicksal der Schwester Selma lässt sich nichts sagen.

Verzeichnis der Quellen außerhalb der Standardfachliteratur:

  • Adressbücher und Meldekartei der Hansestadt Lübeck
    Archiv der Hansestadt Lübeck, Staatliche Polizeiverwaltung 109, 110, 124
  • Bundesarchiv: Gedenkbuch, Opfer der Verfolgung der Juden unter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft in Deutschland 1933-1945,
    www.bundesarchiv.de/gedenkbuch
  • Gedenkbuch für die Opfer des Konzentrationslagers Ravensbrück 1939-1945, hrsg. von der Mahn- u. Gedenkstätte Ravensbrück. Berlin 2005,
    S. 39-42
  • Gedenkstätte Bernburg, Website www.gedenkstaette-bernburg.de 
  • Goldberg, Bettina: Abseits der Metropolen, Die jüdische Minderheit in Schleswig-Holstein, Neumünster 2011
  • JSHD Forschungsgruppe "Juden in Schleswig-Holstein" an der Universität Flensburg, Datenpool (Erich Koch)
  • Landesarchiv Schleswig-Holstein, Gefangenenakte Abt. 357.3, Nr. 4746, 1941, Entschädigungsakten Abt. 458, Nr.475, Abt.761, Nr.14762
  • Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück, Website www.ravensbrueck.de
    und schriftliche Auskünfte Frau Monika Schnell
  • Memorbuch zum Gedenken an die jüdischen, in der Schoa umgekommenen Schleswig-Holsteiner und Schleswig-Holsteinerinnen, hrsg. V. Miriam Gillis-Carlebach, Hamburg 1996
  • Tracing the Past, Website tracingthepast.org/ Minority-Census,
    Datenbank der Ergänzungskarten zur Volkszählung 1939
  • Wilke, Günther und Marianne: Lübeck unterm Hakenkreuz, Wegweiser zu Stätten des Widerstandes und der Verfolgung in Lübeck 1933 – 1945, 2002
  • Yad Vashem, The Central Database of Shoah Victims’ Names
  • Zeitzeugengespräche

Heidemarie Kugler-Weiemann, 2015