• Deutsch
  • English

In der Adolfstraße 5a lebte Elsa Strauß mit ihrem Sohn Walter.

Adolfstraße 5a, Aufnahme Heidemarie Kugler-Weiemann 2010
Adolfstraße 5a, Aufnahme Heidemarie Kugler-Weiemann 2010

Elsa Strauß, geborene Stern, war am 10. April 1880 in Gelnhausen zur Welt gekommen. Ihre Eltern Ferdinand Stern und Rebekka Stern, geborene Kohn, hatten im 1868 in Gelnhausen geheiratet. Elsa hatte drei Brüder: Theo, Louis und Max. Über ihre Kindheit und Jugend und wie sie ihren Ehemann kennen lernte, ist nichts weiter bekannt. Am 10. März 1902 heiratete sie in Würzburg den Kaufmann und Fabrikanten Nathan (auch Natan) Strauß. Dieser war am 25. Juli 1867 in Barchfeld in Thüringen geboren, war also 13 Jahre älter als seine Frau. 

Das Ehepaar lebte in Chemnitz, wo Nathan Strauß schon seit Herbst 1889 ansässig war. Sein Vater Isaak Heinemann Strauß war 1883 in Barchfeld verstorben. Seine Mutter Babette Strauß, geborene Stern, zog einige Jahre später mit ihrer Tochter Selma ebenfalls nach Chemnitz. Im Oktober 1893 gründete Nathan Strauß gemeinsam mit seinem Kompagnon Nathan Stern unter der Firma N. Strauß & Co. eine mechanische Strickerei. Er wurde im Mai 1908 in den sächsischen Untertanenverband aufgenommen und erlangte damit gleichzeitig das Bürgerrecht der Stadt Chemnitz. Der Fabrikant war auch Mitglied des bedeutenden Chemnitzer Kunstvereins „Kunsthütte“. Die Eheleute Strauß lebten zunächst in der Schillerstraße 1 und bezogen später eine Wohnung  in der Heinrich-Beck-Straße 7 auf dem Kassberg, einem beliebten Villenviertel. 

Ihre am 9. Dezember 1906 geborene Tochter kam tot auf die Welt und wurde auf dem Jüdischen Friedhof namenlos begraben. Fünf Jahre später wurde am 28. Mai 1911 ihr Sohn Walter geboren.

Das Glück als Familie durfte jedoch nur kurz währen, denn bereits ein Jahr später, am 15. August 1912, verstarb Nathan Strauß im Alter von nur 45 Jahren. Sein Schwager Louis Stern zeigte den Tod bei den zuständigen Behörden an. Nathan Strauß wurde auf dem Jüdischen Friedhof von Chemnitz bestattet. 

Grabstein von Nathan Strauß auf dem jüdischen Friedhof in Chemnitz, Aufnahme Heidemarie Kugler-Weiemann 2013
Grabstein von Nathan Strauß auf dem jüdischen Friedhof in Chemnitz, Aufnahme Heidemarie Kugler-Weiemann 2013

Elsa Strauß war bereits im April 1912 Prokuristin im Unternehmen ihres Ehemannes geworden, nachdem der einstige Teilhaber Nathan Stern schon 1902 aus der Firma ausgeschieden war. Im März 1914 gab sie die Prokura auf, denn sie hatte die Firma an den Kaufmann Friedrich R. Voigt verkaufen können. Noch bis Juli 1922 firmierte das ehemalige Familienunternehmen als „Friedrich R. Voigt, vorm. N. Strauß & Co.“, bevor der neue Inhaber auf den Zusatz verzichtete. 

Im Juni 1915 zog Elsa Strauß mit dem nun vierjährigen Walter sowie ihren Eltern von Chemnitz nach Lübeck. Diese waren im Juli 1904 von Würzburg aus nach Chemnitz gekommen, wo außer der Tochter Elsa auch der Sohn Louis seit 1902 ansässig war.  Louis Stern versuchte als Strumpf- und Wollwarenfabrikant seine Existenz in Chemnitz aufzubauen, allerdings mit geringem Erfolg. Im Januar 1910 ging er in das benachbarte Freiberg, später nach Dresden. Elsa Strauß‘ Schwiegermutter Babette Stern blieb noch bis zum Tod ihrer unverheirateten Tochter Selma im Februar 1919 in Chemnitz wohnhaft und verlegte dann ihren Wohnsitz nach Frankfurt (Main). 

In Lübeck lebte seit der Jahrhundertwende Elsas älterer Bruder Dr. Max Stern. Er war seit 1907 Inhaber der Chemischen Fabrik Schlutup, in der vor allem Fischmehl produziert wurde. Max Stern war verheiratet mit Sofie, geborene Marcus. Ihre Tochter Johanna war 1910 geboren, war also knapp ein Jahr älter als der Cousin Walter. Die dreiköpfige Familie wohnte seit 1912 in ihrer Villa in der Roeckstraße 23, nicht weit entfernt von der Adolfstraße, wo Elsa Strauß das Haus Nummer 5a als Zuhause für sich und ihren Sohn sowie die Eltern erwarb. Auch die Eltern von Sofie Stern, Max und Elise Marcus, wohnten in unmittelbarer Nähe. Ihnen gehörte die Villa Israelsdorfer Allee 8( (später Travemünder Allee 8). Sie waren 1912  aus dem mecklenburgischen Schwaan nach Lübeck umgezogen, um in der Nähe ihres einzigen Kindes zu sein. 

Dieses Haus Roeckstraße 23 gehörte Dr. Max Stern, dem Bruder von Elsa Strauß.
Dieses Haus Roeckstraße 23 gehörte Dr. Max Stern, dem Bruder von Elsa Strauß.
Travemünder Allee 8, diese Villa gehörte Max und Elise Marcus, den Eltern von Elsa Strauß Schwägerin Sofie Stern.
Travemünder Allee 8, diese Villa gehörte Max und Elise Marcus, den Eltern von Elsa Strauß Schwägerin Sofie Stern.

Zum Zeitpunkt des Umzugs seiner Schwester Elsa nach Lübeck befand sich Max Stern als freiwilliger Kriegsteilnehmer an der Westfront, wo ihm 1917 die Urkunde ausgehändigt wurde, die ihn und seine Familie lübeckische Staatsbürger werden ließ.

Aufnahmeurkunde der Freien und Hansestadt Lübeck für Familie Stern Archiv der Hansestadt Lübeck, Stadt- und Landamt, Anlagen zum Erwerb der Staatsangehörigkeit 340/1917
Aufnahmeurkunde der Freien und Hansestadt Lübeck für Familie Stern Archiv der Hansestadt Lübeck, Stadt- und Landamt, Anlagen zum Erwerb der Staatsangehörigkeit 340/1917
Dr. Max Stern während des 1. Weltkriegs als freiwilliger Kriegsteilnehmer, Familienbesitz
Dr. Max Stern während des 1. Weltkriegs als freiwilliger Kriegsteilnehmer, Familienbesitz

Während seiner Abwesenheit leitete seine Frau Sofie die Fabrik, so dass Johanna von den Verwandten versorgt und betreut wurde. Walter und Johanna sollen wie Geschwister miteinander aufgewachsen sein und ein sehr gutes Verhältnis zueinander gehabt haben. Johanna besuchte ab 1916 die Ernestinenschule und Walter ab 1917 das Johanneum. Einige Fotos zeigen das Miteinander der Familie.

Johanna mit Rebecca und Ferdinand Stern, Familienbesitz
Johanna mit Rebecca und Ferdinand Stern, Familienbesitz
Familienbild Dr. Max Stern, Johanna, Sofie Stern, Rebecca und Ferdinand Stern, Familienbesitz
Familienbild Dr. Max Stern, Johanna, Sofie Stern, Rebecca und Ferdinand Stern, Familienbesitz

Nach nur wenigen Jahren in Lübeck verstarben die gemeinsamen Eltern bzw. Großeltern, Rebecca Stern 1920 im Alter von 77 Jahren und Ferdinand Stern 1921 mit 78 Jahren. In ihrem gemeinsamen Testament hatten sie ihre vier Kinder gleichermaßen bedacht, doch sowohl Max Stern als auch seine beiden Brüder Louis und Theodor sowie alle Kinder schlugen die Erbschaft zugunsten von Elsa Strauß aus, ein deutliches Zeichen gegenseitiger Zuneigung und Fürsorge. 

Todesanzeige für Ferdinand Stern Lübecker General-Anzeiger vom 7.12.1921, 1. Beilage, Bl. 1, verso AHL, Amtsgericht, Testament 35/1921, Strauß
Todesanzeige für Ferdinand Stern Lübecker General-Anzeiger vom 7.12.1921, 1. Beilage, Bl. 1, verso AHL, Amtsgericht, Testament 35/1921, Strauß

Die Leiche Ferdinand Sterns wurde (sicher auf seinen eigenen Wunsch) eingeäschert und auf dem städtischen Vorwerker Friedhof begraben. Auch wurde sein Tod nicht im Personenstandsregister der Israelitischen Gemeinde verzeichnet, anders als der Tod seiner Frau im Jahr zuvor. 

In der Mitgliederliste des Israelitischen Frauenvereins von 1927 werden sowohl „Frau Max Marcus“ und „Frau Dr. Stern“ als auch „Frau Elsa Strauß“ aufgeführt, was auf das Engagement der Familie in der Gemeinde schließen lässt.

In der Gemeinützigen Gesellschaft war Dr. Max Stern seit langem Mitglied, ein deutliches Zeichen seines Engagements in der bürgerlichen lübeckischen Gesellschaft. Im Jahre 1928 wurde dem erfolgreichen assimilierten Unternehmer eine besondere Ehre zuteil: Er wurde zum litauischen Konsul ernannt.

Die Fabrik in Schlututp war in den letzten Jahren weiter ausgebaut worden, gerade wurde sogar ein eigener Gleisanschluss geplant. Am 1. November 1928 konnte die Chemische Fabrik Schlutup gleichzeitig ihr dreißigjähriges Bestehen und 25 Jahre den Inhaber Dr. Max Stern feiern. Der Prokurst Heinrich Niemann verfasste zu diesem Anlass für den Chef ein handgeschriebenes Album der Firmengeschichte. Er schließt mit der Hoffnung, dass es Dr. Max Stern „vergönnt sein möge, das goldene Jubiläum als Inhaber eines noch größeren Werkes zu feiern“.   

Allerdings hatte zeitgleich seit dem Frühjahr 1928 ein anderes Ereignis Firma und Familie schwer zu erschüttern begonnen. Der Lübecker Böttchermeister Holst erstattete Anzeige gegen Dr. Stern: In seinem Auftrage habe er ein Jahr zuvor 79 Bottiche ohne Mitteilung an die Behörden auf vier "Gruskuhlen" (so der alte lübsche Ausdruck für die Müllhalden) entleeren müssen, die mit Arsen verunreinigten roten Phosphor enthalten hätten. Die Klage wurde zwar abgewiesen, nicht aber eine Schadensersatzklage des Lübecker Senats. Bis 1937 wurden Brunnenmessungen vom Gesundheitsamt durchgeführt, dabei allerdings keine bedenklichen Werte gefunden. In der Presse wurde der „Giftskandal“ weit über Lübecks Grenzen thematisiert und teilweise mit antisemitischen Tendenzen hoch gekocht.

Offenbar versuchten die Familienmitglieder in dieser Lage finanziell zu helfen, denn sowohl Elsa Strauß als auch Max Marcus belasteten 1928 ihre Grundstücke mit Hypotheken, doch 1931 musste die Chemische Fabrik Schlutup trotz aller Bemühungen Konkurs anmelden. Ab 1932  konnte sie dann im Besitz von Sofie Stern weiter geführt werden. Dr. Max Stern legte sein Amt als litauischer Konsul nieder, 

Johanna brach ihr Jurastudium in Heidelberg ab und kehrte nach Lübeck zurück. Nun  besuchte sie einen Handelskurs und arbeitete anschließend als Kontoristin, zunächst im Warenhaus Globus und dann bei Lubeca. Dort wurde sie 1933 wegen ihrer jüdischen Abstammung entlassen. Johanna Stern ging daraufhin erst nach Hamburg und arbeitete sechs Wochen auf einer Hühnerfarm, machte damit ein landwirtschaftliches Praktikum und bereitete sich anschließend im Kinderheim Ahava in Berlin mit einer hauswirtschaftlichen Ausbildung auf ein Leben in Palästina vor. Im Oktober 1934 konnte sie Deutschland verlassen und nach Palästina einwandern. 

Johanna Stern und Walter Strauß, Familienbesitz
Johanna Stern und Walter Strauß, Familienbesitz

Wie Johanna hatte auch Walter Strauss 1929 sein Abitur bestanden. In den Unterlagen vom Johanneum im Archiv der Hansestadt Lübeck lassen sich nicht nur sein Zeugnis, sondern auch einzelne Prüfungsarbeiten sowie seine Jahresarbeit finden, die er zum Thema  "Seehandel und Seeverkehr unter besonderer Berücksichtigung der Lage Deutschlands" verfasst hatte. 

Gliederung der Jahresarbeit von Walter Strauß AHL, Schulen, Johanneum
Gliederung der Jahresarbeit von Walter Strauß AHL, Schulen, Johanneum
Reifezeugnis von Walter Strauß Vor- und Rückseite AHL, Schulen, Johanneum
Reifezeugnis von Walter Strauß Vor- und Rückseite AHL, Schulen, Johanneum

Nach seinem Abitur nahm Walter Strauß sodann das Studium der Volkswirtschaft an der Hamburgischen Universität auf und machte im Oktober 1932 sein Diplom. 

Diplom von Walter Strauß als Volkswirt, Familienbesitz
Diplom von Walter Strauß als Volkswirt, Familienbesitz
Elsa und Walter Strauß, Familienbesitz
Elsa und Walter Strauß, Familienbesitz

Schon während seiner Studienzeit war Walter Strauß bei der Firma Dyckerhoff & Neumann beschäftigt, von April bis Oktober 1931am Hauptsitz der Firma in Wetzlar, anschließend in Hamburg im Zweigwerk Altona-Bahrenfeld. Im März 1932 meldete er sich aus Lübeck nach Altona-Bahrenfeld ab, „ohne nähere Wohn-Angabe“, wie es auf der Meldekarte heißt. Als Diplomvolkswirt blieb er noch bis 1936 in der Firma.

Zeugnis der Firma Dyckerhoff & Neumann, Familienbesitz
Zeugnis der Firma Dyckerhoff & Neumann, Familienbesitz

1936 fand Dr. Walter Strauß eine neue Arbeit bei einer holländischen Bank, der N.V. Eng.Holl. Bank, die ihn von 1936 bis 1940 als Revisionsbeamten bei der Canciucul Quadrat S.A.I.R.  in der rumänischen Hauptstadt Bukarest einsetzte, so dass er Nazideutschland verlassen konnte. Laut seinem Arbeitszeugnis endete die Zusammenarbeit mit dieser rumänischen Gesellschaft im Jahr 1940, und ihm wurde daher gekündigt. 

Zeugnis der N.V.Eng.Holl. Bank, Den Haag, 1940, Familienbesitz
Zeugnis der N.V.Eng.Holl. Bank, Den Haag, 1940, Familienbesitz

Die Ereignisse des Krieges zwangen Walter Strauß zur weiteren Flucht aus Rumänien, denn mittlerweile hatte sich die Situation für die jüdische Bevölkerung auch dort dramatisch verschlechtert. Ab dem Herbst 1941 wurden alle Juden im Alter von  18-50 Jahren zur Zwangsarbeit  verpflichtet, so dass die Menschen hohe Risiken auf sich nahmen, um fliehen zu können. So war Walter Strauß einer der 769 jüdischen Flüchtlinge, die viel Geld dafür bezahlten, um mit dem alten Dampfer „Struma“ nach Palästina zu gelangen. 

Am 12.12.1941 verließ das unter Panama-Flagge fahrende Schiff „Struma“ den Hafen von Coustanza mit weitaus mehr Menschen an Bord als zugelassen. Pro Person waren 20 kg Gepäck genehmigt, wovon allerdings der Zoll einen erheblichen Teil beschlagnahmte. Die erste kurze Etappe der Reise über das Schwarze Meer bis nach Istanbul dauerte durch den Ausfall der Maschinen bereits vier lange Tage. Dort wurden die Flüchtlinge bis auf wenige Ausnahmen weder an Land gelassen noch gab es die zugesagten Einreisepapiere für Palästina. Die Weiterfahrt des Schiffes wurde untersagt. Nach wochenlangem Warten ließen die türkischen Behörden das defekte Schiff  am 24. Februar 1942 zurück ins Schwarze Meer schleppen. Noch am selben Tag wurde es von einem sowjetischen U-Boot angegriffen und versank. Walter Strauß kam am 24. Februar 1942 beim Untergang des Schiffes ums Leben, und mit ihm bis auf einen Überlebenden alle anderen Flüchtlinge. 

  

Seine Mutter dürfte zu diesem Zeitpunkt noch gelebt haben – unter furchtbaren Bedingungen im Lager Jungfernhof in Riga. Elsa Strauß hatte sich entschieden, nicht zu fliehen, sondern in Lübeck zu bleiben, in der Hoffnung, ihr möge nichts Schlimmeres widerfahren. Im Lübecker Adressbuch war sie in den dreißiger Jahren als Pensioninhaberin in ihrem Haus Adolfstraße 5a verzeichnet.

Dr. Max Stern und seine Frau Sofie hatten 1933 ihr Haus in der Roeckstraße verkaufen müssen und waren in die Erdgeschosswohnung am Hindenburgplatz 1 gezogen, die Fritz Lissauer gehörte, einem jüdischen Kaufmann. Sofies Eltern waren bereits 1931 zu den Kindern gezogen, möglicherweise um durch die Mieteinnahmen für die Wohnungen in ihrer Villa mehr Geld aufzubringen. Der betagte „Rentier“ Max Marcus versuchte sogar wieder als Händler für Stoffe tätig zu werden. Elise Marcus verstarb 1932 im Alter von 68 Jahren noch in der Roeckstraße 23, Max Marcus im Februar 1934  im Alter von 79 Jahren am Hindenburgplatz. Nach seinem Tod erbten Sofie und Max Stern die Villa in der Travemünder Allee 8,  und sie bezogen im Januar 1937 nach der Auswanderung Fritz Lissauers nach Dänemark dort die Erdgeschosswohnung. 

In den 1935 in den Lübecker Zeitungen veröffentlichten Boykottaufrufen mit der Namensliste „Erwerbstätige Juden in Lübeck“ wird auch Dr. Max Stern genannt: „Hindenburgplatz 1, Fischmehl, Chemikalien, Anzugstoffe“. 

Auch Max und Sofie Stern bemühten sich intensiv um eine Möglichkeit, Deutschland zu verlassen, und erhielten schließlich im November 1938 ein Einwanderungszertifikat für Palästina und konnten ihrer Tochter dorthin folgen. 

Zuvor hatte Max Stern nicht nur den Arisierungsverkauf des Hauses Travemünder Allee 8 regeln müssen, sondern auch den des Hauses Adolfstraße 5a. Seine Schwester verkaufte das Haus an den Gastwirt Westfehling und durfte im Erdgeschoss ein Zimmer von 32 Quadratmetern weiter bewohnen. Ihre Wertsachen sandte sie ihrem Sohn nach Rumänien, alles andere fiel der Oberfinanzdirektion Rostock zu. 

Neben vielen anderen antijüdischen Maßnahmen war Elsa Strauß gezwungen, den zusätzlichen "jüdischen" Vornamen anzunehmen, den gelben Stern an ihrer Kleidung sichtbar zu tragen, und es ist schwer vorstellbar, wie sie ihren Lebensunterhalt bestreiten konnte.

Im Herbst 1941 erhielt sie den "Evakuierungsbefehl" "zum Arbeitseinsatz in den Osten", durfte 50 Kilogramm Gepäck mitnehmen und musste sich am 4. Dezember 1941 in der St.Annen-Straße 11, der Sammelstelle im einstigen Altersheim der jüdischen Gemeinde, einfinden, ebenso wie um die neunzig weitere Menschen. Am 6. Dezember, einem Samstag, brachten Busse die älteren Leute zum Bahnhof, und von hier fuhren sie in Personenwagen zunächst nach Bad Oldesloe, wo der Transport  nach Riga zusammengestellt wurde. Etwa 1000 Personen gehörten zum sog. Hamburger Transport, Lübecker, Hamburger und andere Schleswig-Holsteiner.  Nach drei Tagen kam der Zug am Bahnhof Skirotova in Riga an. Von hier ging es zu Fuß weiter durch den Schnee zu einem früheren Gutshof an der Daugava, dem Jungfernhof. In diesem Lager waren etliche tausend Menschen unter erbärmlichsten Bedingungen eingesperrt. Während der Monate Dezember, Januar und Februar starben viele der Alten und Kinder, Hunger und Durst, die extreme Kälte dieses Winters und fehlende Versorgung waren die Hauptursachen. Die Toten konnten im gefrorenen Boden nicht begraben werden, so stapelten sich die Leichen. 

Es gibt in den Akten einen Hinweis darauf, wie Elsa Strauß ums Leben gekommen ist, und zwar die Ausage "Dünamünde Transport". Am 26. März 1942 wurde den auf dem Jungfernhof inhaftierten Menschen Arbeit in einer Fischfabrik in Dünamunde in Aussicht gestellt, für die sie sich freiwillig melden konnten. Lastwagen fuhren mit den vielen, vielen Freiwilligen, die nicht ahnen konnten, dass ein solcher Ort gar nicht existierte, in den Bikerniekiwald, wo sie alle erschossen wurden. Dass ihr Sohn  einen Monat zuvor ertrunken war, hatte sie sicher nicht erfahren. Elsa Strauss wurde nach dem Krieg für tot erklärt. 

Im Bikerniekiwald erinnert eine Gedenkstätte an die vielen tausend Menschen, die dort ermordet worden sind. 

Gedenkstätte Bikerniekiwald, Heidemarie Kugler-Weiemann Frühjahr 2010
Gedenkstätte Bikerniekiwald, Heidemarie Kugler-Weiemann Frühjahr 2010

Wie Elsa Strauß wurde eine ihrer Schwägerinnen Opfer der Shoa. Während ihrem Bruder Theodor mit seiner Frau Carla die Flucht nach England gelungen war, flüchtete Louis Stern mit seiner Frau in die Tschechoslowakei, wo er 1937 an einer Gehirnblutung starb. Seine Frau wurde später deportiert und ermordet. Der Sohn Michael Stern konnte nach Palästina gelangen. 

   

1988 war Johanna Hartogsohn, geborene Stern auf Einladung der schleswig-holsteinischen Landesregierung zu Besuch in Lübeck und wurde vom damaligen Senator Lund im Rathaus empfangen.

Lübecker Nachrichten 24.8.1988
Lübecker Nachrichten 24.8.1988

Ihr Sohn Yoram Hartosohn kam 2010 mit seinen beiden Töchtern und seinem Sohn auf einer privaten Erinnerungsreise nach Lübeck und wurde im Audienszsaal des Rathauses von der jetzigen Stadtpräsidentin Gabriele Schopenhauer willkommen geheißen.  

 

 

Yoram Hartogsohn mit Sohn Ido und Tochter Yael im Archiv der Hansestadt Lübeck, Foto H.K-W 2010
Yoram Hartogsohn mit Sohn Ido und Tochter Yael im Archiv der Hansestadt Lübeck, Foto H.K-W 2010

Verzeichnis der Quellen außerhalb der Standardfachliteratur:

  • Adressbücher und Meldekartei der Hansestadt Lübeck

    • Archiv der Hansestadt Lübeck:

      • Staatliche Polizeiverwaltung 109, 110, 124
      • Amtsgericht: 

        • Grundbuch, St. Gertrud, 863, 1062, 1064 
        • Handelsregister A 430 (Chemische Fabrik Schlutup)
        • Testamente 35/1921, Stern; 4/1933, Marcus 
        • Todeserklärungen 5 II 95/53, Elsa Strauß 

      • Stadt- und Landamt, Bürgerannahmen 319/1917 und Erwerb der Staatsangehörigkeit 340/1917 (mit Anlagen)
      • Israelitische Gemeinde 1-6
      • Polizeiamt 1058-1062
      • Neues Senatsarchiv 1761 und 7603
      • Wasser- und Hafenbauamt, Erw. 1978, Pak. 33, III 7, 34
      • Handelskammer zu Lübeck 362 (Acta betr. Litauisches Konsulat zu Lübeck)
      • Gesellschaft zur Beförderung gemeinnütziger Tätigkeit 1173 
      • Schulen:

        • Ernestinenschule 39 Haupt-Schülerinnen-Verzeichnis der staatlichen höheren Mädchenschule, 1910-1919
        • Johanneum 39 Prüfungsunterlagen 1929, 94 Jahresstudienarbeit Walter Strauß, 95 Abiturarbeiten, 115 Zensurenhefte, Stammbuch 

  • Gedenkbuch des Bundesarchivs online 
  • JSHD Forschungsgruppe "Juden in Schleswig-Holstein" an der Universität Flensburg, Datenpool (Erich Koch) 
  • Landesarchiv Schleswig-Holstein, Entschädigungsakten
    Abt. 510, Nr. 8993, 9148; Abt. 352 Kiel, Nr, 6689, 8196, 7890 
  • Klatt, Ingaburgh: “...dahin wie ein Schatten”, Aspekte jüdischen Lebens in Lübeck, Lübeck 1993
  • Krause, Eckart, Arbeitsstelle und Bibliothek für Universitätsgeschichte der Universität Hamburg, Auskünfte über Walter Strauß, 5.9.2012
  • Landau-Mühsam, Charlotte, Meine Erinnerungen, Lübeck 2010, S.62
  • Memorbuch zum Gedenken an die jüdischen, in der Schoa umgekommenen Schleswig-Holsteiner und Schleswig-Holsteinerinnen, hrsg. V. Miriam Gillis-Carlebach, Hamburg 1996
  • Naor, Mordechai: Haapala, Clandestine Immigration, Tel Aviv 1987
  • Niemann, Heinrich: 30 Jahre Chemische Fabrik Schlutup, handschriftliche unveröffentlichte Festschrift, Familienbesitz 
  • Nitsche, Jürgen / Röcher, Ruth, Hrsg.: Juden in Chemnitz, Die Geschichte der Gemeinde und ihrer Mitglieder, Mit einer Dokumentation des Jüdischen Friedhofs,Dresden 2002, S. 464
  • Nitsche, Jürgen: Auskünfte über die Familie Strauß 2012/13
  • www.juden-in-chemnitz.de
  • Schriftwechsel und Gespräche mit Michael Stern und Yoram Hartogsohn, 2011-2013
  • Albrecht Schreiber, Zwischen Davidstern und Doppeladler, Illustrierte Chronik der Juden in Moisling und Lübeck, Lübeck 1992
  • Stoliar, David: Die Geschichte der Struma, erzählt von ihrem einzigen Geretteten,
  • Strauß, Walter: Konjunktur Barometer unter besonderer Berücksichtigung der Eisenmärkte seit 1924, Hamburg 1934, Rechts- und staatswissenschaftliche Dissertation vom 26.2.1934 / Bibliothek des Instituts für Weltwirtschaft an der Universität Kiel
  • Winter, Rabbiner Dr. David: Blätter der Erinnerung zum 50jährigen Bestehen des israelitischen Frauenvereins zu Lübeck, 1877-1927, Lübeck 1927 
  • Yad Vashem, The Central Database of Shoah Victims’ Names
  • Zeitzeugengespräche  
  • Ziegler, Lutz: Die Wunden sitzen auch heute noch tief, Lübecker Nachrichten 24.8.1988 

Heidemarie Kugler-Weiemann, 2013